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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

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über durch die Bemerkung beseitigen wollte, daß ich
erst seit einigen Monaten freie Zeit habe, mich in der
neuesten Litteratur umzusehen, wunderte sich Fichte und
setzte unerwartet hinzu: "Wenigstens geschafft haben
Sie länger, das sieht man!" Ein bestimmtes Urtheil
über meine Gedichte, um welches ich jetzt ihn zu bitten
wagte, wollte er weiter nicht geben, und meinte, es
liege schon in dem vorigen; sagte aber denn doch, er
halte mich für den kunstreichsten der Genossen, daß aber,
um Dichter zu sein, jetzt kleine lyrische Stücke nicht
ausreichten, sondern man müsse ein größeres Ganze,
einen Roman, ein Epos oder ein Drama geliefert ha¬
ben. Das letztere nahm ich mir tief zu Herzen, dem
erstern Theil seines Spruches aber konnt' ich im Innern
nicht beistimmen, als höchstens in Betreff einiger pro¬
sodischen Fertigkeit; für das Wesentliche der Poesie setzt'
ich Chamisso größtentheils und Theremin unbedingt
über mich.

Da August Wilhelm Schlegel zum Winter ästhetische
Vorlesungen ankündigte, so ließen wir uns diese gute
Gelegenheit nicht entgehen. Seine Uebersicht der deut¬
schen Dichtkunst in ihrer geschichtlichen Entwicklung, und
die Beispiele, die er aus früheren Zeiten reichlich mit¬
theilte, waren mir von großem Nutzen. In den Wust
von einzelnen Kenntnissen und Ansichten, die ich nach
Zufall aufgehäuft, kam mehr Ordnung und Zusammen¬
hang, ich lernte auch für mein eignes Dichten festere

uͤber durch die Bemerkung beſeitigen wollte, daß ich
erſt ſeit einigen Monaten freie Zeit habe, mich in der
neueſten Litteratur umzuſehen, wunderte ſich Fichte und
ſetzte unerwartet hinzu: „Wenigſtens geſchafft haben
Sie laͤnger, das ſieht man!“ Ein beſtimmtes Urtheil
uͤber meine Gedichte, um welches ich jetzt ihn zu bitten
wagte, wollte er weiter nicht geben, und meinte, es
liege ſchon in dem vorigen; ſagte aber denn doch, er
halte mich fuͤr den kunſtreichſten der Genoſſen, daß aber,
um Dichter zu ſein, jetzt kleine lyriſche Stuͤcke nicht
ausreichten, ſondern man muͤſſe ein groͤßeres Ganze,
einen Roman, ein Epos oder ein Drama geliefert ha¬
ben. Das letztere nahm ich mir tief zu Herzen, dem
erſtern Theil ſeines Spruches aber konnt' ich im Innern
nicht beiſtimmen, als hoͤchſtens in Betreff einiger pro¬
ſodiſchen Fertigkeit; fuͤr das Weſentliche der Poeſie ſetzt'
ich Chamiſſo groͤßtentheils und Theremin unbedingt
uͤber mich.

Da Auguſt Wilhelm Schlegel zum Winter aͤſthetiſche
Vorleſungen ankuͤndigte, ſo ließen wir uns dieſe gute
Gelegenheit nicht entgehen. Seine Ueberſicht der deut¬
ſchen Dichtkunſt in ihrer geſchichtlichen Entwicklung, und
die Beiſpiele, die er aus fruͤheren Zeiten reichlich mit¬
theilte, waren mir von großem Nutzen. In den Wuſt
von einzelnen Kenntniſſen und Anſichten, die ich nach
Zufall aufgehaͤuft, kam mehr Ordnung und Zuſammen¬
hang, ich lernte auch fuͤr mein eignes Dichten feſtere

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[59/0073] uͤber durch die Bemerkung beſeitigen wollte, daß ich erſt ſeit einigen Monaten freie Zeit habe, mich in der neueſten Litteratur umzuſehen, wunderte ſich Fichte und ſetzte unerwartet hinzu: „Wenigſtens geſchafft haben Sie laͤnger, das ſieht man!“ Ein beſtimmtes Urtheil uͤber meine Gedichte, um welches ich jetzt ihn zu bitten wagte, wollte er weiter nicht geben, und meinte, es liege ſchon in dem vorigen; ſagte aber denn doch, er halte mich fuͤr den kunſtreichſten der Genoſſen, daß aber, um Dichter zu ſein, jetzt kleine lyriſche Stuͤcke nicht ausreichten, ſondern man muͤſſe ein groͤßeres Ganze, einen Roman, ein Epos oder ein Drama geliefert ha¬ ben. Das letztere nahm ich mir tief zu Herzen, dem erſtern Theil ſeines Spruches aber konnt' ich im Innern nicht beiſtimmen, als hoͤchſtens in Betreff einiger pro¬ ſodiſchen Fertigkeit; fuͤr das Weſentliche der Poeſie ſetzt' ich Chamiſſo groͤßtentheils und Theremin unbedingt uͤber mich. Da Auguſt Wilhelm Schlegel zum Winter aͤſthetiſche Vorleſungen ankuͤndigte, ſo ließen wir uns dieſe gute Gelegenheit nicht entgehen. Seine Ueberſicht der deut¬ ſchen Dichtkunſt in ihrer geſchichtlichen Entwicklung, und die Beiſpiele, die er aus fruͤheren Zeiten reichlich mit¬ theilte, waren mir von großem Nutzen. In den Wuſt von einzelnen Kenntniſſen und Anſichten, die ich nach Zufall aufgehaͤuft, kam mehr Ordnung und Zuſammen¬ hang, ich lernte auch fuͤr mein eignes Dichten feſtere

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/73>, abgerufen am 27.11.2024.