Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Physiognomie des Bodens trägt gewiß das Ihrige
dazu bei, sie spricht im Allgemeinen das Gemüth tief
an, man fühlt sich einsam und wie aus der Welt ge¬
schieden in diesen beschränkten Thalstrecken und auf die¬
sen mäßigen Höhenzügen; überall trifft der Blick auf
zerstörte Burgen, einsame Kapellen, man wird an ein
vergangnes Leben erinnert, zwischen dessen Trümmern
sich die Gegenwart kleinlich ausnimmt. Tübingen be¬
sonders hat in seinem Oertlichen etwas Ahndungsvol¬
les, Seltsames, und es giebt Hügelecken und Thal¬
windungen, wo man am hellen Mittag irgend eine
Unheimlichkeit argwöhnen könnte. Sonderbar ist es,
daß gegen diese Stimmung des Landes und der Ein¬
wohner die Wirksamkeit des Protestantismus, der hier
in den trefflichsten Anstalten und Geistlichen eine un¬
aufhörliche Quelle tief in das Volk dringender Bildung
ist, bisher nichts vermocht hat.

Kerner ist nun in diesen Richtungen der wahre
Ausdruck seines Landes und Volkes, nur emporgehoben
aus der untersten Region in eine höhere, wo wissen¬
schaftliche Einsicht und dichterische Phantasie zu dem
Volkstümlichen sich mischen. Seine Natur wirkt so
entschieden, daß in seiner Gegenwart mehr möglich
scheint als sonst, daß die Empfänglichkeit andrer Ge¬
müther durch ihn wächst. Er hat selbst einmal -- vo¬
riges Jahr am Weihnachtsabend -- etwas Seltsames
erlebt. Es war tief im Winter, und er saß mit einem

Die Phyſiognomie des Bodens traͤgt gewiß das Ihrige
dazu bei, ſie ſpricht im Allgemeinen das Gemuͤth tief
an, man fuͤhlt ſich einſam und wie aus der Welt ge¬
ſchieden in dieſen beſchraͤnkten Thalſtrecken und auf die¬
ſen maͤßigen Hoͤhenzuͤgen; uͤberall trifft der Blick auf
zerſtoͤrte Burgen, einſame Kapellen, man wird an ein
vergangnes Leben erinnert, zwiſchen deſſen Truͤmmern
ſich die Gegenwart kleinlich ausnimmt. Tuͤbingen be¬
ſonders hat in ſeinem Oertlichen etwas Ahndungsvol¬
les, Seltſames, und es giebt Huͤgelecken und Thal¬
windungen, wo man am hellen Mittag irgend eine
Unheimlichkeit argwoͤhnen koͤnnte. Sonderbar iſt es,
daß gegen dieſe Stimmung des Landes und der Ein¬
wohner die Wirkſamkeit des Proteſtantismus, der hier
in den trefflichſten Anſtalten und Geiſtlichen eine un¬
aufhoͤrliche Quelle tief in das Volk dringender Bildung
iſt, bisher nichts vermocht hat.

Kerner iſt nun in dieſen Richtungen der wahre
Ausdruck ſeines Landes und Volkes, nur emporgehoben
aus der unterſten Region in eine hoͤhere, wo wiſſen¬
ſchaftliche Einſicht und dichteriſche Phantaſie zu dem
Volkstuͤmlichen ſich miſchen. Seine Natur wirkt ſo
entſchieden, daß in ſeiner Gegenwart mehr moͤglich
ſcheint als ſonſt, daß die Empfaͤnglichkeit andrer Ge¬
muͤther durch ihn waͤchſt. Er hat ſelbſt einmal — vo¬
riges Jahr am Weihnachtsabend — etwas Seltſames
erlebt. Es war tief im Winter, und er ſaß mit einem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0123" n="111"/>
Die Phy&#x017F;iognomie des Bodens tra&#x0364;gt gewiß das Ihrige<lb/>
dazu bei, &#x017F;ie &#x017F;pricht im Allgemeinen das Gemu&#x0364;th tief<lb/>
an, man fu&#x0364;hlt &#x017F;ich ein&#x017F;am und wie aus der Welt ge¬<lb/>
&#x017F;chieden in die&#x017F;en be&#x017F;chra&#x0364;nkten Thal&#x017F;trecken und auf die¬<lb/>
&#x017F;en ma&#x0364;ßigen Ho&#x0364;henzu&#x0364;gen; u&#x0364;berall trifft der Blick auf<lb/>
zer&#x017F;to&#x0364;rte Burgen, ein&#x017F;ame Kapellen, man wird an ein<lb/>
vergangnes Leben erinnert, zwi&#x017F;chen de&#x017F;&#x017F;en Tru&#x0364;mmern<lb/>
&#x017F;ich die Gegenwart kleinlich ausnimmt. Tu&#x0364;bingen be¬<lb/>
&#x017F;onders hat in &#x017F;einem Oertlichen etwas Ahndungsvol¬<lb/>
les, Selt&#x017F;ames, und es giebt Hu&#x0364;gelecken und Thal¬<lb/>
windungen, wo man am hellen Mittag irgend eine<lb/>
Unheimlichkeit argwo&#x0364;hnen ko&#x0364;nnte. Sonderbar i&#x017F;t es,<lb/>
daß gegen die&#x017F;e Stimmung des Landes und der Ein¬<lb/>
wohner die Wirk&#x017F;amkeit des Prote&#x017F;tantismus, der hier<lb/>
in den trefflich&#x017F;ten An&#x017F;talten und Gei&#x017F;tlichen eine un¬<lb/>
aufho&#x0364;rliche Quelle tief in das Volk dringender Bildung<lb/>
i&#x017F;t, bisher nichts vermocht hat.</p><lb/>
        <p>Kerner i&#x017F;t nun in die&#x017F;en Richtungen der wahre<lb/>
Ausdruck &#x017F;eines Landes und Volkes, nur emporgehoben<lb/>
aus der unter&#x017F;ten Region in eine ho&#x0364;here, wo wi&#x017F;&#x017F;en¬<lb/>
&#x017F;chaftliche Ein&#x017F;icht und dichteri&#x017F;che Phanta&#x017F;ie zu dem<lb/>
Volkstu&#x0364;mlichen &#x017F;ich mi&#x017F;chen. Seine Natur wirkt &#x017F;o<lb/>
ent&#x017F;chieden, daß in &#x017F;einer Gegenwart mehr mo&#x0364;glich<lb/>
&#x017F;cheint als &#x017F;on&#x017F;t, daß die Empfa&#x0364;nglichkeit andrer Ge¬<lb/>
mu&#x0364;ther durch ihn wa&#x0364;ch&#x017F;t. Er hat &#x017F;elb&#x017F;t einmal &#x2014; vo¬<lb/>
riges Jahr am Weihnachtsabend &#x2014; etwas Selt&#x017F;ames<lb/>
erlebt. Es war tief im Winter, und er &#x017F;aß mit einem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[111/0123] Die Phyſiognomie des Bodens traͤgt gewiß das Ihrige dazu bei, ſie ſpricht im Allgemeinen das Gemuͤth tief an, man fuͤhlt ſich einſam und wie aus der Welt ge¬ ſchieden in dieſen beſchraͤnkten Thalſtrecken und auf die¬ ſen maͤßigen Hoͤhenzuͤgen; uͤberall trifft der Blick auf zerſtoͤrte Burgen, einſame Kapellen, man wird an ein vergangnes Leben erinnert, zwiſchen deſſen Truͤmmern ſich die Gegenwart kleinlich ausnimmt. Tuͤbingen be¬ ſonders hat in ſeinem Oertlichen etwas Ahndungsvol¬ les, Seltſames, und es giebt Huͤgelecken und Thal¬ windungen, wo man am hellen Mittag irgend eine Unheimlichkeit argwoͤhnen koͤnnte. Sonderbar iſt es, daß gegen dieſe Stimmung des Landes und der Ein¬ wohner die Wirkſamkeit des Proteſtantismus, der hier in den trefflichſten Anſtalten und Geiſtlichen eine un¬ aufhoͤrliche Quelle tief in das Volk dringender Bildung iſt, bisher nichts vermocht hat. Kerner iſt nun in dieſen Richtungen der wahre Ausdruck ſeines Landes und Volkes, nur emporgehoben aus der unterſten Region in eine hoͤhere, wo wiſſen¬ ſchaftliche Einſicht und dichteriſche Phantaſie zu dem Volkstuͤmlichen ſich miſchen. Seine Natur wirkt ſo entſchieden, daß in ſeiner Gegenwart mehr moͤglich ſcheint als ſonſt, daß die Empfaͤnglichkeit andrer Ge¬ muͤther durch ihn waͤchſt. Er hat ſelbſt einmal — vo¬ riges Jahr am Weihnachtsabend — etwas Seltſames erlebt. Es war tief im Winter, und er ſaß mit einem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/123
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/123>, abgerufen am 04.12.2024.