Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Freunde, einem freisinnigen, aufgeklärten Menschen,
Abends bei Licht auf seiner Stube, eine Guitarre lag
zur Hand, und er fing an darauf zu spielen. Wäh¬
rend des Spielens fühlte er eine wunderbare Beklom¬
menheit, die schnell zunahm, er war in einem unbe¬
greiflichen Zustand, den er nie vorher gekannt, ihm
fehlte jeder Maßstab und jeder Ausdruck für seine Em¬
pfindung, die dadurch noch fürchterlicher wurde, daß
er ganz deutlich sah, wie sein Freund, von ähnlichem
Eindruck erfüllt, ganz erschrocken über ihn hinaufblickte;
jetzt war ihm als drücke von obenher eine schwere Masse
ihn gewaltsam nieder, und in demselben Augenblicke,
als die fürchterliche Angst aufs höchste gestiegen war,
sprang der Freund auf, schrie voll Entsetzen: "O Je¬
sus, Kerner!" und stürzte zur Thür hinaus. Kerner
fiel hin, und lag eine Weile besinnungslos, nicht durch
den Schreck, wie er ausdrücklich sagt, sondern durch
die davon unabhängige Steigerung seines innern Zu¬
standes. Als er zu sich kam, verließ er eiligst das
Zimmer, und ging einige Zeit im Freien umher; die
sternenhelle Winternacht erquickte ihn, und er konnte,
als er in seine Stube zurückgekehrt war, ruhig ein¬
schlafen. Am Morgen traf er mit dem Freunde zu¬
sammen, beide waren verlegen, doch endlich erzählte
der Freund, noch ganz angegriffen und erschaudernd
vor der Erinnerung, es sei ihm vorgekommen, als habe
über Kerner's Kopf, während des Spielens, sich eine

Freunde, einem freiſinnigen, aufgeklaͤrten Menſchen,
Abends bei Licht auf ſeiner Stube, eine Guitarre lag
zur Hand, und er fing an darauf zu ſpielen. Waͤh¬
rend des Spielens fuͤhlte er eine wunderbare Beklom¬
menheit, die ſchnell zunahm, er war in einem unbe¬
greiflichen Zuſtand, den er nie vorher gekannt, ihm
fehlte jeder Maßſtab und jeder Ausdruck fuͤr ſeine Em¬
pfindung, die dadurch noch fuͤrchterlicher wurde, daß
er ganz deutlich ſah, wie ſein Freund, von aͤhnlichem
Eindruck erfuͤllt, ganz erſchrocken uͤber ihn hinaufblickte;
jetzt war ihm als druͤcke von obenher eine ſchwere Maſſe
ihn gewaltſam nieder, und in demſelben Augenblicke,
als die fuͤrchterliche Angſt aufs hoͤchſte geſtiegen war,
ſprang der Freund auf, ſchrie voll Entſetzen: „O Je¬
ſus, Kerner!“ und ſtuͤrzte zur Thuͤr hinaus. Kerner
fiel hin, und lag eine Weile beſinnungslos, nicht durch
den Schreck, wie er ausdruͤcklich ſagt, ſondern durch
die davon unabhaͤngige Steigerung ſeines innern Zu¬
ſtandes. Als er zu ſich kam, verließ er eiligſt das
Zimmer, und ging einige Zeit im Freien umher; die
ſternenhelle Winternacht erquickte ihn, und er konnte,
als er in ſeine Stube zuruͤckgekehrt war, ruhig ein¬
ſchlafen. Am Morgen traf er mit dem Freunde zu¬
ſammen, beide waren verlegen, doch endlich erzaͤhlte
der Freund, noch ganz angegriffen und erſchaudernd
vor der Erinnerung, es ſei ihm vorgekommen, als habe
uͤber Kerner's Kopf, waͤhrend des Spielens, ſich eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0124" n="112"/>
Freunde, einem frei&#x017F;innigen, aufgekla&#x0364;rten Men&#x017F;chen,<lb/>
Abends bei Licht auf &#x017F;einer Stube, eine Guitarre lag<lb/>
zur Hand, und er fing an darauf zu &#x017F;pielen. Wa&#x0364;<lb/>
rend des Spielens fu&#x0364;hlte er eine wunderbare Beklom¬<lb/>
menheit, die &#x017F;chnell zunahm, er war in einem unbe¬<lb/>
greiflichen Zu&#x017F;tand, den er nie vorher gekannt, ihm<lb/>
fehlte jeder Maß&#x017F;tab und jeder Ausdruck fu&#x0364;r &#x017F;eine Em¬<lb/>
pfindung, die dadurch noch fu&#x0364;rchterlicher wurde, daß<lb/>
er ganz deutlich &#x017F;ah, wie &#x017F;ein Freund, von a&#x0364;hnlichem<lb/>
Eindruck erfu&#x0364;llt, ganz er&#x017F;chrocken u&#x0364;ber ihn hinaufblickte;<lb/>
jetzt war ihm als dru&#x0364;cke von obenher eine &#x017F;chwere Ma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
ihn gewalt&#x017F;am nieder, und in dem&#x017F;elben Augenblicke,<lb/>
als die fu&#x0364;rchterliche Ang&#x017F;t aufs ho&#x0364;ch&#x017F;te ge&#x017F;tiegen war,<lb/>
&#x017F;prang der Freund auf, &#x017F;chrie voll Ent&#x017F;etzen: &#x201E;O Je¬<lb/>
&#x017F;us, Kerner!&#x201C; und &#x017F;tu&#x0364;rzte zur Thu&#x0364;r hinaus. Kerner<lb/>
fiel hin, und lag eine Weile be&#x017F;innungslos, nicht durch<lb/>
den Schreck, wie er ausdru&#x0364;cklich &#x017F;agt, &#x017F;ondern durch<lb/>
die davon unabha&#x0364;ngige Steigerung &#x017F;eines innern Zu¬<lb/>
&#x017F;tandes. Als er zu &#x017F;ich kam, verließ er eilig&#x017F;t das<lb/>
Zimmer, und ging einige Zeit im Freien umher; die<lb/>
&#x017F;ternenhelle Winternacht erquickte ihn, und er konnte,<lb/>
als er in &#x017F;eine Stube zuru&#x0364;ckgekehrt war, ruhig ein¬<lb/>
&#x017F;chlafen. Am Morgen traf er mit dem Freunde zu¬<lb/>
&#x017F;ammen, beide waren verlegen, doch endlich erza&#x0364;hlte<lb/>
der Freund, noch ganz angegriffen und er&#x017F;chaudernd<lb/>
vor der Erinnerung, es &#x017F;ei ihm vorgekommen, als habe<lb/>
u&#x0364;ber Kerner's Kopf, wa&#x0364;hrend des Spielens, &#x017F;ich eine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[112/0124] Freunde, einem freiſinnigen, aufgeklaͤrten Menſchen, Abends bei Licht auf ſeiner Stube, eine Guitarre lag zur Hand, und er fing an darauf zu ſpielen. Waͤh¬ rend des Spielens fuͤhlte er eine wunderbare Beklom¬ menheit, die ſchnell zunahm, er war in einem unbe¬ greiflichen Zuſtand, den er nie vorher gekannt, ihm fehlte jeder Maßſtab und jeder Ausdruck fuͤr ſeine Em¬ pfindung, die dadurch noch fuͤrchterlicher wurde, daß er ganz deutlich ſah, wie ſein Freund, von aͤhnlichem Eindruck erfuͤllt, ganz erſchrocken uͤber ihn hinaufblickte; jetzt war ihm als druͤcke von obenher eine ſchwere Maſſe ihn gewaltſam nieder, und in demſelben Augenblicke, als die fuͤrchterliche Angſt aufs hoͤchſte geſtiegen war, ſprang der Freund auf, ſchrie voll Entſetzen: „O Je¬ ſus, Kerner!“ und ſtuͤrzte zur Thuͤr hinaus. Kerner fiel hin, und lag eine Weile beſinnungslos, nicht durch den Schreck, wie er ausdruͤcklich ſagt, ſondern durch die davon unabhaͤngige Steigerung ſeines innern Zu¬ ſtandes. Als er zu ſich kam, verließ er eiligſt das Zimmer, und ging einige Zeit im Freien umher; die ſternenhelle Winternacht erquickte ihn, und er konnte, als er in ſeine Stube zuruͤckgekehrt war, ruhig ein¬ ſchlafen. Am Morgen traf er mit dem Freunde zu¬ ſammen, beide waren verlegen, doch endlich erzaͤhlte der Freund, noch ganz angegriffen und erſchaudernd vor der Erinnerung, es ſei ihm vorgekommen, als habe uͤber Kerner's Kopf, waͤhrend des Spielens, ſich eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/124
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/124>, abgerufen am 04.12.2024.