Wohlthaten entrückt, welche die Natur auch der Ar¬ muth noch spendet, und zwischen das Räderwerk falscher Begriffe und Bildung geworfen, und ohn' Erbarmen von diesem zerquetscht und zerstört! Vier Monate spä¬ ter hatte ich in der Wetterau ein anderes Kind zu se¬ hen Gelegenheit, von dem man mir gleichfalls gesagt hatte, es sei ein Beispiel ursprünglicher Bösartigkeit, die durch keine Mittel sich bezwingen lasse. Die kleine Josephine war nicht, wie Luischen, eine arme Waise, sie lebte im Schoß der Familie, in hoher und reicher Sphäre, sie genoß gütiger Behandlung, hinlänglicher Freiheit und zweckmäßigen Unterrichts; sie hatte nicht zu klagen, aber Alle klagten über sie; ein Mißverhältniß war allerdings vorhanden, und das achtjährige Mädchen konnte dies nicht aufheben. Ich fand auch dieses Kind durchaus nicht böse, im Gegentheil heiter und unbe¬ fangen, aber heftig, und, einmal gestört, unbeugsam hartnäckig. Der erste übereilte Ausspruch, sie sei böse, war ihr als eine unverdiente Beschuldigung auf die Seele gefallen, und hatte sie zu der Irrbahn getrieben, auf der nun alles sie befestigte, statt ihr die Hand zu reichen, um wieder davon abzukommen. Für Jose¬ phinen war ein verständigendes Wort einzulegen; Luischen konnte nur eine Schickung retten, zu der ich nicht das Werkzeug zu sein vermochte! Aber im Schmerz über diese und ähnliche mir aufgestoßene Beispiele schrecklicher Kindermißhandlung und Verwahrlosung ging
Wohlthaten entruͤckt, welche die Natur auch der Ar¬ muth noch ſpendet, und zwiſchen das Raͤderwerk falſcher Begriffe und Bildung geworfen, und ohn' Erbarmen von dieſem zerquetſcht und zerſtoͤrt! Vier Monate ſpaͤ¬ ter hatte ich in der Wetterau ein anderes Kind zu ſe¬ hen Gelegenheit, von dem man mir gleichfalls geſagt hatte, es ſei ein Beiſpiel urſpruͤnglicher Boͤsartigkeit, die durch keine Mittel ſich bezwingen laſſe. Die kleine Joſephine war nicht, wie Luischen, eine arme Waiſe, ſie lebte im Schoß der Familie, in hoher und reicher Sphaͤre, ſie genoß guͤtiger Behandlung, hinlaͤnglicher Freiheit und zweckmaͤßigen Unterrichts; ſie hatte nicht zu klagen, aber Alle klagten uͤber ſie; ein Mißverhaͤltniß war allerdings vorhanden, und das achtjaͤhrige Maͤdchen konnte dies nicht aufheben. Ich fand auch dieſes Kind durchaus nicht boͤſe, im Gegentheil heiter und unbe¬ fangen, aber heftig, und, einmal geſtoͤrt, unbeugſam hartnaͤckig. Der erſte uͤbereilte Ausſpruch, ſie ſei boͤſe, war ihr als eine unverdiente Beſchuldigung auf die Seele gefallen, und hatte ſie zu der Irrbahn getrieben, auf der nun alles ſie befeſtigte, ſtatt ihr die Hand zu reichen, um wieder davon abzukommen. Fuͤr Joſe¬ phinen war ein verſtaͤndigendes Wort einzulegen; Luischen konnte nur eine Schickung retten, zu der ich nicht das Werkzeug zu ſein vermochte! Aber im Schmerz uͤber dieſe und aͤhnliche mir aufgeſtoßene Beiſpiele ſchrecklicher Kindermißhandlung und Verwahrloſung ging
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Wohlthaten entruͤckt, welche die Natur auch der Ar¬
muth noch ſpendet, und zwiſchen das Raͤderwerk falſcher
Begriffe und Bildung geworfen, und ohn' Erbarmen
von dieſem zerquetſcht und zerſtoͤrt! Vier Monate ſpaͤ¬
ter hatte ich in der Wetterau ein anderes Kind zu ſe¬
hen Gelegenheit, von dem man mir gleichfalls geſagt
hatte, es ſei ein Beiſpiel urſpruͤnglicher Boͤsartigkeit,
die durch keine Mittel ſich bezwingen laſſe. Die kleine
Joſephine war nicht, wie Luischen, eine arme Waiſe,
ſie lebte im Schoß der Familie, in hoher und reicher
Sphaͤre, ſie genoß guͤtiger Behandlung, hinlaͤnglicher
Freiheit und zweckmaͤßigen Unterrichts; ſie hatte nicht
zu klagen, aber Alle klagten uͤber ſie; ein Mißverhaͤltniß
war allerdings vorhanden, und das achtjaͤhrige Maͤdchen
konnte dies nicht aufheben. Ich fand auch dieſes Kind
durchaus nicht boͤſe, im Gegentheil heiter und unbe¬
fangen, aber heftig, und, einmal geſtoͤrt, unbeugſam
hartnaͤckig. Der erſte uͤbereilte Ausſpruch, ſie ſei boͤſe,
war ihr als eine unverdiente Beſchuldigung auf die
Seele gefallen, und hatte ſie zu der Irrbahn getrieben,
auf der nun alles ſie befeſtigte, ſtatt ihr die Hand zu
reichen, um wieder davon abzukommen. Fuͤr Joſe¬
phinen war ein verſtaͤndigendes Wort einzulegen;
Luischen konnte nur eine Schickung retten, zu der ich
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uͤber dieſe und aͤhnliche mir aufgeſtoßene Beiſpiele
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/152>, abgerufen am 21.11.2024.
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