heiten des Geschichtschreibers von Steinen unerwartet mein eignes, lange vergessenes Geschlechtsregister wieder vor die Augen. Französische Memoiren las ich in Menge, auch strengere Geschichtswerke und sogenannte philosophische Schriften. Was mich aber mehr als alles anzog und erfreute, und mir für die ganze Folgezeit eine Quelle tiefster Befriedigung eröffnete, war die Be¬ kanntschaft, die ich hier zuerst mit den Schriften des Johannes Tauler machte. Ich fand eine Ausgabe nicht nur der Predigten, von denen ich schon einige Kenntniß hatte, sondern auch des seltneren und wichtigeren Wer¬ kes von der Nachahmung des armen Lebens Christi. Diese mehr wissenschaftlich geordnete Darstellung der mystischen Wahrheiten hätte mir nicht zu gelegnerer Zeit kommen können. Ich werde später davon im Zusam¬ menhange näher zu berichten haben, und sage hier nur so viel, daß sich mir durch dieses Buch gleichsam die dunkeln Wände aufthaten, um mich in herrliche, weit¬ hin ausgebreitete Landschaft blicken zu lassen! --
Alles dies regte mich außerordentlich an, und ich verbrachte nun ganze Nächte lesend und schreibend. Hiebei jedoch konnte ich mich nicht erwehren, abermals, wie früher in Tübingen, der örtlichen Stimmung des Landes und der Menschen, unter denen ich lebte, durch besondere Eindrücke inne zu werden. Das katholische Westphalen im nördlichen Deutschland steht nämlich in ähnlichem Verhältnisse, wie das protestantische Würtem¬
heiten des Geſchichtſchreibers von Steinen unerwartet mein eignes, lange vergeſſenes Geſchlechtsregiſter wieder vor die Augen. Franzoͤſiſche Memoiren las ich in Menge, auch ſtrengere Geſchichtswerke und ſogenannte philoſophiſche Schriften. Was mich aber mehr als alles anzog und erfreute, und mir fuͤr die ganze Folgezeit eine Quelle tiefſter Befriedigung eroͤffnete, war die Be¬ kanntſchaft, die ich hier zuerſt mit den Schriften des Johannes Tauler machte. Ich fand eine Ausgabe nicht nur der Predigten, von denen ich ſchon einige Kenntniß hatte, ſondern auch des ſeltneren und wichtigeren Wer¬ kes von der Nachahmung des armen Lebens Chriſti. Dieſe mehr wiſſenſchaftlich geordnete Darſtellung der myſtiſchen Wahrheiten haͤtte mir nicht zu gelegnerer Zeit kommen koͤnnen. Ich werde ſpaͤter davon im Zuſam¬ menhange naͤher zu berichten haben, und ſage hier nur ſo viel, daß ſich mir durch dieſes Buch gleichſam die dunkeln Waͤnde aufthaten, um mich in herrliche, weit¬ hin ausgebreitete Landſchaft blicken zu laſſen! —
Alles dies regte mich außerordentlich an, und ich verbrachte nun ganze Naͤchte leſend und ſchreibend. Hiebei jedoch konnte ich mich nicht erwehren, abermals, wie fruͤher in Tuͤbingen, der oͤrtlichen Stimmung des Landes und der Menſchen, unter denen ich lebte, durch beſondere Eindruͤcke inne zu werden. Das katholiſche Weſtphalen im noͤrdlichen Deutſchland ſteht naͤmlich in aͤhnlichem Verhaͤltniſſe, wie das proteſtantiſche Wuͤrtem¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0158"n="146"/>
heiten des Geſchichtſchreibers von Steinen unerwartet<lb/>
mein eignes, lange vergeſſenes Geſchlechtsregiſter wieder<lb/>
vor die Augen. Franzoͤſiſche Memoiren las ich in<lb/>
Menge, auch ſtrengere Geſchichtswerke und ſogenannte<lb/>
philoſophiſche Schriften. Was mich aber mehr als alles<lb/>
anzog und erfreute, und mir fuͤr die ganze Folgezeit<lb/>
eine Quelle tiefſter Befriedigung eroͤffnete, war die Be¬<lb/>
kanntſchaft, die ich hier zuerſt mit den Schriften des<lb/>
Johannes Tauler machte. Ich fand eine Ausgabe nicht<lb/>
nur der Predigten, von denen ich ſchon einige Kenntniß<lb/>
hatte, ſondern auch des ſeltneren und wichtigeren Wer¬<lb/>
kes von der Nachahmung des armen Lebens Chriſti.<lb/>
Dieſe mehr wiſſenſchaftlich geordnete Darſtellung der<lb/>
myſtiſchen Wahrheiten haͤtte mir nicht zu gelegnerer Zeit<lb/>
kommen koͤnnen. Ich werde ſpaͤter davon im Zuſam¬<lb/>
menhange naͤher zu berichten haben, und ſage hier nur<lb/>ſo viel, daß ſich mir durch dieſes Buch gleichſam die<lb/>
dunkeln Waͤnde aufthaten, um mich in herrliche, weit¬<lb/>
hin ausgebreitete Landſchaft blicken zu laſſen! —</p><lb/><p>Alles dies regte mich außerordentlich an, und ich<lb/>
verbrachte nun ganze Naͤchte leſend und ſchreibend.<lb/>
Hiebei jedoch konnte ich mich nicht erwehren, abermals,<lb/>
wie fruͤher in Tuͤbingen, der oͤrtlichen Stimmung des<lb/>
Landes und der Menſchen, unter denen ich lebte, durch<lb/>
beſondere Eindruͤcke inne zu werden. Das katholiſche<lb/>
Weſtphalen im noͤrdlichen Deutſchland ſteht naͤmlich in<lb/>
aͤhnlichem Verhaͤltniſſe, wie das proteſtantiſche Wuͤrtem¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[146/0158]
heiten des Geſchichtſchreibers von Steinen unerwartet
mein eignes, lange vergeſſenes Geſchlechtsregiſter wieder
vor die Augen. Franzoͤſiſche Memoiren las ich in
Menge, auch ſtrengere Geſchichtswerke und ſogenannte
philoſophiſche Schriften. Was mich aber mehr als alles
anzog und erfreute, und mir fuͤr die ganze Folgezeit
eine Quelle tiefſter Befriedigung eroͤffnete, war die Be¬
kanntſchaft, die ich hier zuerſt mit den Schriften des
Johannes Tauler machte. Ich fand eine Ausgabe nicht
nur der Predigten, von denen ich ſchon einige Kenntniß
hatte, ſondern auch des ſeltneren und wichtigeren Wer¬
kes von der Nachahmung des armen Lebens Chriſti.
Dieſe mehr wiſſenſchaftlich geordnete Darſtellung der
myſtiſchen Wahrheiten haͤtte mir nicht zu gelegnerer Zeit
kommen koͤnnen. Ich werde ſpaͤter davon im Zuſam¬
menhange naͤher zu berichten haben, und ſage hier nur
ſo viel, daß ſich mir durch dieſes Buch gleichſam die
dunkeln Waͤnde aufthaten, um mich in herrliche, weit¬
hin ausgebreitete Landſchaft blicken zu laſſen! —
Alles dies regte mich außerordentlich an, und ich
verbrachte nun ganze Naͤchte leſend und ſchreibend.
Hiebei jedoch konnte ich mich nicht erwehren, abermals,
wie fruͤher in Tuͤbingen, der oͤrtlichen Stimmung des
Landes und der Menſchen, unter denen ich lebte, durch
beſondere Eindruͤcke inne zu werden. Das katholiſche
Weſtphalen im noͤrdlichen Deutſchland ſteht naͤmlich in
aͤhnlichem Verhaͤltniſſe, wie das proteſtantiſche Wuͤrtem¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/158>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.