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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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Verse oder Reime bringen? ohne Reime, glaub' ich, wär's
noch hübscher. Es war nämlich vorgestern Illumination hier,
und wir saßen an Einem Ufer des Teichs, um sie am andern
zu sehen. Ich aber, anstatt die Lampen anzusehen, sah flei-
ßig in's Wasser und an den Himmel; und da stand oben ein
heller schöner Stern, hoch und unbeweglich. Im Wasser war
er auch schön, aber er rührte sich mit dem Winde, wechselte
oft seine Form, und war manchen Augenblick trüb. Da fiel
mir ein, so sei's mit den Menschen; man beurtheile sie weit
von sich ab, in ihren Verhältnissen, da müssen sie sich regen
und bewegen, haben keine Form, und scheinen trübe. Indeß
man sie eigentlich gar nicht sieht, die fest stehen müssen wie
der Stern, wir sehen nur immer ein windiges bewegtes Was-
ser, und heben den Kopf nicht in die Höh. Mir gefällt der
Gedanke: und daß er mir eingefallen ist, dafür kann ich nicht.

Wenn Sie diesen Brief haben, können Sie mir keinen
mehr schreiben, der mich trifft. Ich bin nicht ganz gesund
-- das hofft' ich nicht einmal -- aber ich bin viel besser; und
tanze unter andern wie eine Pikniks-Mamsell. Gestern erst
wieder tüchtig; und Sonntag auch, und künftigen wieder, und
so immerfort. Ein Schmerz ist es aber doch, alles so allein
zu genießen, zu sehen, zu hören! wie ich! Ich thu' es zwar
nicht -- aber -- doch. Ein ganzes Leben hab' ich allein ge-
lebt. Ja, wenn ich nie einen Berliner wiedersähe, ging's
auch an; aber so -- fehlt ihnen nun das alles. Adieu. Viel-
leicht schreib' ich morgen, wenn es Zeit ist, noch ein Wort.

R. L.

Verſe oder Reime bringen? ohne Reime, glaub’ ich, wär’s
noch hübſcher. Es war nämlich vorgeſtern Illumination hier,
und wir ſaßen an Einem Ufer des Teichs, um ſie am andern
zu ſehen. Ich aber, anſtatt die Lampen anzuſehen, ſah flei-
ßig in’s Waſſer und an den Himmel; und da ſtand oben ein
heller ſchöner Stern, hoch und unbeweglich. Im Waſſer war
er auch ſchön, aber er rührte ſich mit dem Winde, wechſelte
oft ſeine Form, und war manchen Augenblick trüb. Da fiel
mir ein, ſo ſei’s mit den Menſchen; man beurtheile ſie weit
von ſich ab, in ihren Verhältniſſen, da müſſen ſie ſich regen
und bewegen, haben keine Form, und ſcheinen trübe. Indeß
man ſie eigentlich gar nicht ſieht, die feſt ſtehen müſſen wie
der Stern, wir ſehen nur immer ein windiges bewegtes Waſ-
ſer, und heben den Kopf nicht in die Höh. Mir gefällt der
Gedanke: und daß er mir eingefallen iſt, dafür kann ich nicht.

Wenn Sie dieſen Brief haben, können Sie mir keinen
mehr ſchreiben, der mich trifft. Ich bin nicht ganz geſund
— das hofft’ ich nicht einmal — aber ich bin viel beſſer; und
tanze unter andern wie eine Pikniks-Mamſell. Geſtern erſt
wieder tüchtig; und Sonntag auch, und künftigen wieder, und
ſo immerfort. Ein Schmerz iſt es aber doch, alles ſo allein
zu genießen, zu ſehen, zu hören! wie ich! Ich thu’ es zwar
nicht — aber — doch. Ein ganzes Leben hab’ ich allein ge-
lebt. Ja, wenn ich nie einen Berliner wiederſähe, ging’s
auch an; aber ſo — fehlt ihnen nun das alles. Adieu. Viel-
leicht ſchreib’ ich morgen, wenn es Zeit iſt, noch ein Wort.

R. L.

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[155/0169] Verſe oder Reime bringen? ohne Reime, glaub’ ich, wär’s noch hübſcher. Es war nämlich vorgeſtern Illumination hier, und wir ſaßen an Einem Ufer des Teichs, um ſie am andern zu ſehen. Ich aber, anſtatt die Lampen anzuſehen, ſah flei- ßig in’s Waſſer und an den Himmel; und da ſtand oben ein heller ſchöner Stern, hoch und unbeweglich. Im Waſſer war er auch ſchön, aber er rührte ſich mit dem Winde, wechſelte oft ſeine Form, und war manchen Augenblick trüb. Da fiel mir ein, ſo ſei’s mit den Menſchen; man beurtheile ſie weit von ſich ab, in ihren Verhältniſſen, da müſſen ſie ſich regen und bewegen, haben keine Form, und ſcheinen trübe. Indeß man ſie eigentlich gar nicht ſieht, die feſt ſtehen müſſen wie der Stern, wir ſehen nur immer ein windiges bewegtes Waſ- ſer, und heben den Kopf nicht in die Höh. Mir gefällt der Gedanke: und daß er mir eingefallen iſt, dafür kann ich nicht. Wenn Sie dieſen Brief haben, können Sie mir keinen mehr ſchreiben, der mich trifft. Ich bin nicht ganz geſund — das hofft’ ich nicht einmal — aber ich bin viel beſſer; und tanze unter andern wie eine Pikniks-Mamſell. Geſtern erſt wieder tüchtig; und Sonntag auch, und künftigen wieder, und ſo immerfort. Ein Schmerz iſt es aber doch, alles ſo allein zu genießen, zu ſehen, zu hören! wie ich! Ich thu’ es zwar nicht — aber — doch. Ein ganzes Leben hab’ ich allein ge- lebt. Ja, wenn ich nie einen Berliner wiederſähe, ging’s auch an; aber ſo — fehlt ihnen nun das alles. Adieu. Viel- leicht ſchreib’ ich morgen, wenn es Zeit iſt, noch ein Wort. R. L.

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/169>, abgerufen am 22.12.2024.