hören, von den verschiedensten Seiten her, und immer mit einem so besondern Reize der Bezeichnung, daß ich mir dabei nur das außerordentlichste, mit keinem andern zu vergleichende Wesen denken mußte. Was von ihr insonderheit Graf Lippe und Frau von Boye mir gesagt, deutete auf ein energisches Zusammensein von Geist und Natur in ursprünglichster, rein- ster Kraft und Form. Auch wenn man einigen Tadel gegen sie versuchte, mußte ich im Gegentheil oft das größte Lob daraus nehmen. Man hatte von einer grade jetzt waltenden Leidenschaft viel gesprochen, die, nach den Erzählungen, an Größe und Erhebung und Unglück alles von Dichtern Besun- gene übertraf. Ich sah in gespannter Aufregung, den Andern zum Lächeln, dem nahen Eintritt der Angekündigten entge- gen. Es erschien eine leichte, graziöse Gestalt, klein aber kräf- tig von Wuchs, von zarten und vollen Gliedern, Fuß und Hand auffallend klein; das Antlitz, von reichem, schwarzen Haar umflossen, verkündigte geistiges Übergewicht, die schnel- len und doch festen dunkeln Blicke ließen zweifeln, ob sie mehr gäben oder aufnähmen, ein leidender Ausdruck lieh den klaren Gesichtszügen eine sanfte Anmuth. Sie bewegte sich in dunkler Kleidung fast schattenartig, aber frei und sicher, und ihre Begrüßung war so bequem als gütig. Was mich aber am überraschendsten traf, war die klangvolle, weiche, aus der innersten Seele herauftönende Stimme, und das wunder- barste Sprechen, das mir noch vorgekommen war. In leich- ten, anspruchslosen Äußerungen der eigenthümlichsten Geistes- art und Laune verbanden sich Naivetät und Witz, Schärfe und Lieblichkeit, und allem war zugleich eine tiefe Wahrheit
hören, von den verſchiedenſten Seiten her, und immer mit einem ſo beſondern Reize der Bezeichnung, daß ich mir dabei nur das außerordentlichſte, mit keinem andern zu vergleichende Weſen denken mußte. Was von ihr inſonderheit Graf Lippe und Frau von Boye mir geſagt, deutete auf ein energiſches Zuſammenſein von Geiſt und Natur in urſprünglichſter, rein- ſter Kraft und Form. Auch wenn man einigen Tadel gegen ſie verſuchte, mußte ich im Gegentheil oft das größte Lob daraus nehmen. Man hatte von einer grade jetzt waltenden Leidenſchaft viel geſprochen, die, nach den Erzählungen, an Größe und Erhebung und Unglück alles von Dichtern Beſun- gene übertraf. Ich ſah in geſpannter Aufregung, den Andern zum Lächeln, dem nahen Eintritt der Angekündigten entge- gen. Es erſchien eine leichte, graziöſe Geſtalt, klein aber kräf- tig von Wuchs, von zarten und vollen Gliedern, Fuß und Hand auffallend klein; das Antlitz, von reichem, ſchwarzen Haar umfloſſen, verkündigte geiſtiges Übergewicht, die ſchnel- len und doch feſten dunkeln Blicke ließen zweifeln, ob ſie mehr gäben oder aufnähmen, ein leidender Ausdruck lieh den klaren Geſichtszügen eine ſanfte Anmuth. Sie bewegte ſich in dunkler Kleidung faſt ſchattenartig, aber frei und ſicher, und ihre Begrüßung war ſo bequem als gütig. Was mich aber am überraſchendſten traf, war die klangvolle, weiche, aus der innerſten Seele herauftönende Stimme, und das wunder- barſte Sprechen, das mir noch vorgekommen war. In leich- ten, anſpruchsloſen Äußerungen der eigenthümlichſten Geiſtes- art und Laune verbanden ſich Naivetät und Witz, Schärfe und Lieblichkeit, und allem war zugleich eine tiefe Wahrheit
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hören, von den verſchiedenſten Seiten her, und immer mit
einem ſo beſondern Reize der Bezeichnung, daß ich mir dabei
nur das außerordentlichſte, mit keinem andern zu vergleichende
Weſen denken mußte. Was von ihr inſonderheit Graf Lippe
und Frau von Boye mir geſagt, deutete auf ein energiſches
Zuſammenſein von Geiſt und Natur in urſprünglichſter, rein-
ſter Kraft und Form. Auch wenn man einigen Tadel gegen
ſie verſuchte, mußte ich im Gegentheil oft das größte Lob
daraus nehmen. Man hatte von einer grade jetzt waltenden
Leidenſchaft viel geſprochen, die, nach den Erzählungen, an
Größe und Erhebung und Unglück alles von Dichtern Beſun-
gene übertraf. Ich ſah in geſpannter Aufregung, den Andern
zum Lächeln, dem nahen Eintritt der Angekündigten entge-
gen. Es erſchien eine leichte, graziöſe Geſtalt, klein aber kräf-
tig von Wuchs, von zarten und vollen Gliedern, Fuß und
Hand auffallend klein; das Antlitz, von reichem, ſchwarzen
Haar umfloſſen, verkündigte geiſtiges Übergewicht, die ſchnel-
len und doch feſten dunkeln Blicke ließen zweifeln, ob ſie
mehr gäben oder aufnähmen, ein leidender Ausdruck lieh
den klaren Geſichtszügen eine ſanfte Anmuth. Sie bewegte
ſich in dunkler Kleidung faſt ſchattenartig, aber frei und ſicher,
und ihre Begrüßung war ſo bequem als gütig. Was mich
aber am überraſchendſten traf, war die klangvolle, weiche, aus
der innerſten Seele herauftönende Stimme, und das wunder-
barſte Sprechen, das mir noch vorgekommen war. In leich-
ten, anſpruchsloſen Äußerungen der eigenthümlichſten Geiſtes-
art und Laune verbanden ſich Naivetät und Witz, Schärfe
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/19>, abgerufen am 22.12.2024.
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