ein tendre haben zu können! Ich bedarf keines "Lasters" bei der Art Menschen -- und wie Sie ihn beschreiben. Ich bin aber schon längst mit ihm ausgesöhnt: seit ich weiß, daß ihn Luise liebt; ich glaubte, sie hätte ihn nur geheirathet. In Schlegels Kollegium hoff' ich ihn kennen zu lernen; das ist eine natürliche Art. Ich dank' Ihnen, daß Sie bis zur Thätigkeit an mich denken. Ich freue mich, den Jacobi'schen Kalender zu lesen. Sie werden Freude an meinem Goutiren haben. Mlle. Reimarus muß äußerst geistvoll und lebhaft sein; was ich noch von ihr gelesen habe, ist sprechend ähnlich. Nämlich: von guten Portraiten kann man die Ähnlichkeit er- kennen, wenn man die Menschen, die sie darstellen, auch nicht gesehen hat. Aus ihren Worten erkennt man ein ganzes le- bendiges, ihr gehöriges Leben. Ich lieb sie von weitem. Ich dank' Ihnen für die Stelle; für die Mühe, und für den Ge- danken. Werden Sie mich besuchen? Morgen bin ich bei Mad. S -- mit unserm Ister-Mädchen -- so nenn' ich sie -- wenn man mir nicht absagt. Leben Sie wohl! Ich bin seit ein paar Tagen, und besonders seit heute, auf verdrießliche Stellen in mir gestoßen. Manchmal merkt man ordentlich, was man aufgiebt. Adieu.
Anmerk. Der Ausdruck "Laster" scheint hier, wie auch in an- dern Stellen, nach scherzhafter Übereinkunft grade den sittlichen Geist in seiner genialen Freiheit zu bedeuten, wo die beschränkte Gewöhnlichkeit ihn nicht mehr faßt, und wohl gar als sein Gegentheil bezeichnet. S. Philosophische Ansichten, von G. von Brinckmann. S. 204. ff.
ein tendre haben zu können! Ich bedarf keines „Laſters“ bei der Art Menſchen — und wie Sie ihn beſchreiben. Ich bin aber ſchon längſt mit ihm ausgeſöhnt: ſeit ich weiß, daß ihn Luiſe liebt; ich glaubte, ſie hätte ihn nur geheirathet. In Schlegels Kollegium hoff’ ich ihn kennen zu lernen; das iſt eine natürliche Art. Ich dank’ Ihnen, daß Sie bis zur Thätigkeit an mich denken. Ich freue mich, den Jacobi’ſchen Kalender zu leſen. Sie werden Freude an meinem Goutiren haben. Mlle. Reimarus muß äußerſt geiſtvoll und lebhaft ſein; was ich noch von ihr geleſen habe, iſt ſprechend ähnlich. Nämlich: von guten Portraiten kann man die Ähnlichkeit er- kennen, wenn man die Menſchen, die ſie darſtellen, auch nicht geſehen hat. Aus ihren Worten erkennt man ein ganzes le- bendiges, ihr gehöriges Leben. Ich lieb ſie von weitem. Ich dank’ Ihnen für die Stelle; für die Mühe, und für den Ge- danken. Werden Sie mich beſuchen? Morgen bin ich bei Mad. S — mit unſerm Iſter-Mädchen — ſo nenn’ ich ſie — wenn man mir nicht abſagt. Leben Sie wohl! Ich bin ſeit ein paar Tagen, und beſonders ſeit heute, auf verdrießliche Stellen in mir geſtoßen. Manchmal merkt man ordentlich, was man aufgiebt. Adieu.
Anmerk. Der Ausdruck „Laſter“ ſcheint hier, wie auch in an- dern Stellen, nach ſcherzhafter Übereinkunft grade den ſittlichen Geiſt in ſeiner genialen Freiheit zu bedeuten, wo die beſchränkte Gewöhnlichkeit ihn nicht mehr faßt, und wohl gar als ſein Gegentheil bezeichnet. S. Philoſophiſche Anſichten, von G. von Brinckmann. S. 204. ff.
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ein tendre haben zu können! Ich bedarf keines „Laſters“ bei
der Art Menſchen — und wie Sie ihn beſchreiben. Ich bin
aber ſchon längſt mit ihm ausgeſöhnt: ſeit ich weiß, daß
ihn Luiſe liebt; ich glaubte, ſie hätte ihn nur geheirathet.
In Schlegels Kollegium hoff’ ich ihn kennen zu lernen; das
iſt eine natürliche Art. Ich dank’ Ihnen, daß Sie bis zur
Thätigkeit an mich denken. Ich freue mich, den Jacobi’ſchen
Kalender zu leſen. Sie werden Freude an meinem Goutiren
haben. Mlle. Reimarus muß äußerſt geiſtvoll und lebhaft
ſein; was ich noch von ihr geleſen habe, iſt ſprechend ähnlich.
Nämlich: von guten Portraiten kann man die Ähnlichkeit er-
kennen, wenn man die Menſchen, die ſie darſtellen, auch nicht
geſehen hat. Aus ihren Worten erkennt man ein ganzes le-
bendiges, ihr gehöriges Leben. Ich lieb ſie von weitem. Ich
dank’ Ihnen für die Stelle; für die Mühe, und für den Ge-
danken. Werden Sie mich beſuchen? Morgen bin ich bei
Mad. S — mit unſerm Iſter-Mädchen — ſo nenn’ ich ſie —
wenn man mir nicht abſagt. Leben Sie wohl! Ich bin ſeit
ein paar Tagen, und beſonders ſeit heute, auf verdrießliche
Stellen in mir geſtoßen. Manchmal merkt man ordentlich,
was man aufgiebt. Adieu.
Anmerk. Der Ausdruck „Laſter“ ſcheint hier, wie auch in an-
dern Stellen, nach ſcherzhafter Übereinkunft grade den ſittlichen Geiſt in
ſeiner genialen Freiheit zu bedeuten, wo die beſchränkte Gewöhnlichkeit
ihn nicht mehr faßt, und wohl gar als ſein Gegentheil bezeichnet. S.
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/263>, abgerufen am 23.12.2024.
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