Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
An Frau von F., in Berlin.

Ich muß Ihnen doch ein Winterwort, Sie werden gleich
sehen, warum ich es so nenne, sagen; Sie glauben nicht, wie
ich in mir nachstöre, mir alles abfrage -- wirklich ganz aus
und über menschliche Verhältnisse hinaus komme, und doch
nur immer wieder hinein; wie unendlich ist selbst der Mensch
als Mensch: wie ist es nichts, als Arbeit, immer neue Arbeit,
so lange er es bleibt; wie ist er nur eine Zusammenstellung
von Gedanken, und eine Macht zu dieser Zusammenstellung!
Wie ungerecht sind wir manchmal gegen uns, und immer
gegen Andere; wir fordern Bestand -- wo wir nur ächtes
Bemühen, Ernst, Unschuld, und ein wenig guten Scherz zu
fordern haben. Was Einer ernst meint, worüber auch
Einer, mit Bewußtsein, scherzt, wir sollten zufrieden sein; und
jede andern Eigenschaften als Talente lieben und schätzen;
recht nachsichtig sein! -- Zu verachten, hat man ja noch
alle Verwirrten; zu stören, ewig unsere polypenartige eigene
Verwirrung. Pflegt man auf solche Dinge nicht im Winter
zu kommen?




Ich ließ Ihnen sagen, ich würde zu Ihnen kommen die-
sen Morgen: ich fühle nach dem Aufstehn, daß ich nicht kann.
Heute sollte ich mit meinen Geschwistern nach Potsdam: ich
habe darauf gedrängt. Ab! ich gehe nicht; sie. Sonntag
soll ich auf dem Garten zu Mittag essen, aber ich will nicht.

-- Ich
An Frau von F., in Berlin.

Ich muß Ihnen doch ein Winterwort, Sie werden gleich
ſehen, warum ich es ſo nenne, ſagen; Sie glauben nicht, wie
ich in mir nachſtöre, mir alles abfrage — wirklich ganz aus
und über menſchliche Verhältniſſe hinaus komme, und doch
nur immer wieder hinein; wie unendlich iſt ſelbſt der Menſch
als Menſch: wie iſt es nichts, als Arbeit, immer neue Arbeit,
ſo lange er es bleibt; wie iſt er nur eine Zuſammenſtellung
von Gedanken, und eine Macht zu dieſer Zuſammenſtellung!
Wie ungerecht ſind wir manchmal gegen uns, und immer
gegen Andere; wir fordern Beſtand — wo wir nur ächtes
Bemühen, Ernſt, Unſchuld, und ein wenig guten Scherz zu
fordern haben. Was Einer ernſt meint, worüber auch
Einer, mit Bewußtſein, ſcherzt, wir ſollten zufrieden ſein; und
jede andern Eigenſchaften als Talente lieben und ſchätzen;
recht nachſichtig ſein! — Zu verachten, hat man ja noch
alle Verwirrten; zu ſtören, ewig unſere polypenartige eigene
Verwirrung. Pflegt man auf ſolche Dinge nicht im Winter
zu kommen?




Ich ließ Ihnen ſagen, ich würde zu Ihnen kommen die-
ſen Morgen: ich fühle nach dem Aufſtehn, daß ich nicht kann.
Heute ſollte ich mit meinen Geſchwiſtern nach Potsdam: ich
habe darauf gedrängt. Ab! ich gehe nicht; ſie. Sonntag
ſoll ich auf dem Garten zu Mittag eſſen, aber ich will nicht.

Ich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0334" n="320"/>
        <div n="2">
          <head>An Frau von F., in Berlin.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, den 81. Juni 1807.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Ich muß Ihnen doch ein Winterwort, Sie werden gleich<lb/>
&#x017F;ehen, warum ich es &#x017F;o nenne, &#x017F;agen; Sie glauben nicht, wie<lb/>
ich in mir nach&#x017F;töre, mir alles abfrage &#x2014; wirklich ganz aus<lb/>
und über men&#x017F;chliche Verhältni&#x017F;&#x017F;e hinaus komme, und doch<lb/>
nur immer wieder hinein; wie unendlich i&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t der Men&#x017F;ch<lb/>
als Men&#x017F;ch: wie i&#x017F;t es nichts, als Arbeit, immer neue Arbeit,<lb/>
&#x017F;o lange er es bleibt; wie i&#x017F;t er nur eine Zu&#x017F;ammen&#x017F;tellung<lb/>
von Gedanken, und eine Macht zu die&#x017F;er Zu&#x017F;ammen&#x017F;tellung!<lb/>
Wie ungerecht &#x017F;ind wir manchmal gegen uns, und immer<lb/>
gegen Andere; wir fordern Be&#x017F;tand &#x2014; wo wir nur ächtes<lb/>
Bemühen, Ern&#x017F;t, Un&#x017F;chuld, und ein wenig guten Scherz zu<lb/>
fordern haben. Was Einer ern&#x017F;t meint, <hi rendition="#g">worüber</hi> auch<lb/>
Einer, mit Bewußt&#x017F;ein, &#x017F;cherzt, wir &#x017F;ollten zufrieden &#x017F;ein; und<lb/><hi rendition="#g">jede andern</hi> Eigen&#x017F;chaften als <hi rendition="#g">Talente</hi> lieben und &#x017F;chätzen;<lb/><hi rendition="#g">recht</hi> nach&#x017F;ichtig &#x017F;ein! &#x2014; Zu verachten, hat man ja noch<lb/>
alle Verwirrten; zu &#x017F;tören, ewig un&#x017F;ere polypenartige eigene<lb/>
Verwirrung. Pflegt man auf &#x017F;olche Dinge nicht im Winter<lb/>
zu kommen?</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Freitag, den 24. Juli 1807.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Ich ließ Ihnen &#x017F;agen, ich würde zu Ihnen kommen die-<lb/>
&#x017F;en Morgen: ich fühle nach dem Auf&#x017F;tehn, daß ich nicht kann.<lb/>
Heute &#x017F;ollte ich mit meinen Ge&#x017F;chwi&#x017F;tern nach Potsdam: ich<lb/>
habe darauf gedrängt. Ab! ich gehe nicht; &#x017F;ie. Sonntag<lb/>
&#x017F;oll ich auf dem Garten zu Mittag e&#x017F;&#x017F;en, aber ich will nicht.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x2014; <hi rendition="#g">Ich</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[320/0334] An Frau von F., in Berlin. Berlin, den 81. Juni 1807. Ich muß Ihnen doch ein Winterwort, Sie werden gleich ſehen, warum ich es ſo nenne, ſagen; Sie glauben nicht, wie ich in mir nachſtöre, mir alles abfrage — wirklich ganz aus und über menſchliche Verhältniſſe hinaus komme, und doch nur immer wieder hinein; wie unendlich iſt ſelbſt der Menſch als Menſch: wie iſt es nichts, als Arbeit, immer neue Arbeit, ſo lange er es bleibt; wie iſt er nur eine Zuſammenſtellung von Gedanken, und eine Macht zu dieſer Zuſammenſtellung! Wie ungerecht ſind wir manchmal gegen uns, und immer gegen Andere; wir fordern Beſtand — wo wir nur ächtes Bemühen, Ernſt, Unſchuld, und ein wenig guten Scherz zu fordern haben. Was Einer ernſt meint, worüber auch Einer, mit Bewußtſein, ſcherzt, wir ſollten zufrieden ſein; und jede andern Eigenſchaften als Talente lieben und ſchätzen; recht nachſichtig ſein! — Zu verachten, hat man ja noch alle Verwirrten; zu ſtören, ewig unſere polypenartige eigene Verwirrung. Pflegt man auf ſolche Dinge nicht im Winter zu kommen? Freitag, den 24. Juli 1807. Ich ließ Ihnen ſagen, ich würde zu Ihnen kommen die- ſen Morgen: ich fühle nach dem Aufſtehn, daß ich nicht kann. Heute ſollte ich mit meinen Geſchwiſtern nach Potsdam: ich habe darauf gedrängt. Ab! ich gehe nicht; ſie. Sonntag ſoll ich auf dem Garten zu Mittag eſſen, aber ich will nicht. — Ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/334
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/334>, abgerufen am 23.12.2024.