Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

begegnet, geht mir fremd, als Besuch vorüber; und mit Un-
würdigen soll ich anerkannt leben müssen! Sie brauchen und
mißbrauchen mich nur. Und gesellig stellen wir uns beider-
seits; sie, weil sie mich brauchen; und ich, weil ein Zwei-
kampf, einer mit Blut, es nicht enden kann. Du siehst, ich
bin außer mir! So nennt man es, wenn das wahre Herz
spricht. -- Die Narren und Lügner beschützen sich unter ein-
ander. Ich habe aber kein Gesetz, keinen Verwandten, keinen
Freund. Und bei dieser Ungerechtigkeit ärgert mich sogar der
Tadel. Keiner, nicht Einer tadelt mich, der nicht in ihrer
Meinung selbst gegen Alle gefehlt hat: meiner nimmt sich kei-
ner an, mich verfolgen sie, weil ich für jeden bei dem andern
sprach. Ich will dich mit den kleinlichen -- und auch mich --
Geschichten verschonen, die mich aus der Entfernung her die-
ser Ansicht zudrängen. O! wie entwachsen wäre ich ihnen
durch deine Nähe! durch die Nähe eines Freundes. Einer
befreundeten Kreatur. -- Die Frauen, die ich sehe, bringen
mich ganz herunter, physisch. Meine Nerven. Sie spannen
mir die Gedanken so ab. Sie sind so erstaunlich matt, bei-
nah unklug aus Zusammenhangslosigkeit. Und nehmen die
Parallele von sich zu mir so gewiß an, daß nur aus dem
Zimmer laufen mich retten kann. Lügen thun sie auch: weil
sie's so oft nöthig haben; und weil Verstand zur Wahrheit
gehört: und Lügen ennuyirt mich bis zur Krankheit: so ist
auch meist ihr Unglück: und wenn sie welches haben, kommen
sie zu mir. Gestern kam ein Mädchen zu mir, die in star-
ken drei Jahren meine Schwelle nicht betreten hatte: eine
Freundin von Louis Geliebte, ich mußte denken, sie sei auch

begegnet, geht mir fremd, als Beſuch vorüber; und mit Un-
würdigen ſoll ich anerkannt leben müſſen! Sie brauchen und
mißbrauchen mich nur. Und geſellig ſtellen wir uns beider-
ſeits; ſie, weil ſie mich brauchen; und ich, weil ein Zwei-
kampf, einer mit Blut, es nicht enden kann. Du ſiehſt, ich
bin außer mir! So nennt man es, wenn das wahre Herz
ſpricht. — Die Narren und Lügner beſchützen ſich unter ein-
ander. Ich habe aber kein Geſetz, keinen Verwandten, keinen
Freund. Und bei dieſer Ungerechtigkeit ärgert mich ſogar der
Tadel. Keiner, nicht Einer tadelt mich, der nicht in ihrer
Meinung ſelbſt gegen Alle gefehlt hat: meiner nimmt ſich kei-
ner an, mich verfolgen ſie, weil ich für jeden bei dem andern
ſprach. Ich will dich mit den kleinlichen — und auch mich —
Geſchichten verſchonen, die mich aus der Entfernung her die-
ſer Anſicht zudrängen. O! wie entwachſen wäre ich ihnen
durch deine Nähe! durch die Nähe eines Freundes. Einer
befreundeten Kreatur. — Die Frauen, die ich ſehe, bringen
mich ganz herunter, phyſiſch. Meine Nerven. Sie ſpannen
mir die Gedanken ſo ab. Sie ſind ſo erſtaunlich matt, bei-
nah unklug aus Zuſammenhangsloſigkeit. Und nehmen die
Parallele von ſich zu mir ſo gewiß an, daß nur aus dem
Zimmer laufen mich retten kann. Lügen thun ſie auch: weil
ſie’s ſo oft nöthig haben; und weil Verſtand zur Wahrheit
gehört: und Lügen ennuyirt mich bis zur Krankheit: ſo iſt
auch meiſt ihr Unglück: und wenn ſie welches haben, kommen
ſie zu mir. Geſtern kam ein Mädchen zu mir, die in ſtar-
ken drei Jahren meine Schwelle nicht betreten hatte: eine
Freundin von Louis Geliebte, ich mußte denken, ſie ſei auch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0373" n="359"/>
begegnet, geht mir fremd, als Be&#x017F;uch vorüber; und mit Un-<lb/>
würdigen &#x017F;oll ich anerkannt leben mü&#x017F;&#x017F;en! Sie brauchen und<lb/>
mißbrauchen mich nur. Und ge&#x017F;ellig &#x017F;tellen wir uns beider-<lb/>
&#x017F;eits; &#x017F;ie, weil &#x017F;ie mich brauchen; und ich, weil ein Zwei-<lb/>
kampf, einer mit Blut, es nicht enden kann. Du &#x017F;ieh&#x017F;t, ich<lb/>
bin außer mir! So nennt man es, wenn das wahre Herz<lb/>
&#x017F;pricht. &#x2014; Die Narren und Lügner be&#x017F;chützen &#x017F;ich unter ein-<lb/>
ander. Ich habe aber kein Ge&#x017F;etz, keinen Verwandten, keinen<lb/>
Freund. Und bei die&#x017F;er Ungerechtigkeit ärgert mich &#x017F;ogar der<lb/>
Tadel. Keiner, nicht Einer tadelt mich, der nicht in ihrer<lb/>
Meinung &#x017F;elb&#x017F;t gegen Alle gefehlt hat: meiner nimmt &#x017F;ich kei-<lb/>
ner an, mich verfolgen &#x017F;ie, weil ich für jeden bei dem andern<lb/>
&#x017F;prach. Ich will dich mit den kleinlichen &#x2014; und auch mich &#x2014;<lb/>
Ge&#x017F;chichten ver&#x017F;chonen, die mich aus der Entfernung her die-<lb/>
&#x017F;er An&#x017F;icht zudrängen. O! wie entwach&#x017F;en wäre ich ihnen<lb/>
durch <hi rendition="#g">deine</hi> Nähe! durch die Nähe eines Freundes. Einer<lb/>
befreundeten Kreatur. &#x2014; Die Frauen, die ich &#x017F;ehe, bringen<lb/>
mich ganz herunter, phy&#x017F;i&#x017F;ch. Meine Nerven. Sie &#x017F;pannen<lb/>
mir die Gedanken &#x017F;o ab. Sie &#x017F;ind &#x017F;o er&#x017F;taunlich matt, bei-<lb/>
nah unklug aus Zu&#x017F;ammenhangslo&#x017F;igkeit. Und nehmen die<lb/>
Parallele von &#x017F;ich zu mir &#x017F;o gewiß an, daß nur aus dem<lb/>
Zimmer laufen mich retten kann. Lügen thun &#x017F;ie auch: weil<lb/>
&#x017F;ie&#x2019;s &#x017F;o oft nöthig haben; und weil Ver&#x017F;tand zur Wahrheit<lb/>
gehört: und Lügen ennuyirt mich bis zur Krankheit: &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
auch mei&#x017F;t ihr Unglück: und wenn &#x017F;ie welches haben, kommen<lb/>
&#x017F;ie zu <hi rendition="#g">mir</hi>. Ge&#x017F;tern kam ein Mädchen zu mir, die in &#x017F;tar-<lb/>
ken drei Jahren meine Schwelle nicht betreten hatte: eine<lb/>
Freundin von Louis Geliebte, ich mußte denken, &#x017F;ie &#x017F;ei auch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[359/0373] begegnet, geht mir fremd, als Beſuch vorüber; und mit Un- würdigen ſoll ich anerkannt leben müſſen! Sie brauchen und mißbrauchen mich nur. Und geſellig ſtellen wir uns beider- ſeits; ſie, weil ſie mich brauchen; und ich, weil ein Zwei- kampf, einer mit Blut, es nicht enden kann. Du ſiehſt, ich bin außer mir! So nennt man es, wenn das wahre Herz ſpricht. — Die Narren und Lügner beſchützen ſich unter ein- ander. Ich habe aber kein Geſetz, keinen Verwandten, keinen Freund. Und bei dieſer Ungerechtigkeit ärgert mich ſogar der Tadel. Keiner, nicht Einer tadelt mich, der nicht in ihrer Meinung ſelbſt gegen Alle gefehlt hat: meiner nimmt ſich kei- ner an, mich verfolgen ſie, weil ich für jeden bei dem andern ſprach. Ich will dich mit den kleinlichen — und auch mich — Geſchichten verſchonen, die mich aus der Entfernung her die- ſer Anſicht zudrängen. O! wie entwachſen wäre ich ihnen durch deine Nähe! durch die Nähe eines Freundes. Einer befreundeten Kreatur. — Die Frauen, die ich ſehe, bringen mich ganz herunter, phyſiſch. Meine Nerven. Sie ſpannen mir die Gedanken ſo ab. Sie ſind ſo erſtaunlich matt, bei- nah unklug aus Zuſammenhangsloſigkeit. Und nehmen die Parallele von ſich zu mir ſo gewiß an, daß nur aus dem Zimmer laufen mich retten kann. Lügen thun ſie auch: weil ſie’s ſo oft nöthig haben; und weil Verſtand zur Wahrheit gehört: und Lügen ennuyirt mich bis zur Krankheit: ſo iſt auch meiſt ihr Unglück: und wenn ſie welches haben, kommen ſie zu mir. Geſtern kam ein Mädchen zu mir, die in ſtar- ken drei Jahren meine Schwelle nicht betreten hatte: eine Freundin von Louis Geliebte, ich mußte denken, ſie ſei auch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/373
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/373>, abgerufen am 23.12.2024.