immer zufrieden, oder vielmehr fertig, über die Ereignisse. Nur Eins ist anders in mir. Ich kenne den Tod mehr, durch Mama. Und sehe ihn überall; und er hat auch mehr Macht über mich bekommen. Ich bin sterblicher geworden. Ängstigen thut mich das nicht besonders: aber ärgerlich macht es mich. Ich habe beständig vor Augen, wie Einer umfalltn kann, ver- welkt, wie eine andere Pflanze, mitten drin. Es kann mich gar nicht rühren, aber so ekeln, so ärgern. Und daß man nicht durch seinen Willen leben bleiben kann! und so ekelhaft wird; versteinerte man doch! --
An Frau von F., in Berlin.
Berlin, den 17. Mai 1810.
-- Aber Liebe! Was soll ich wohl sprechen, nachdem Sie mir meine eigenen Worte so im schlimmen Sinn angeführt haben; mit welchem Zutrauen kann ich sprechen, wenn Sie mich so, nicht aus Bosheit, aber im Ernste auslegen! Ein Mensch, wie ein Buch, kann dem Sinne nach zerrissen werden, und dann kann man alles daraus machen. Das pflegt sich Fichte beim Anfang seiner Bücher zu verbitten. Dies Recht des Denkers an ein feindliches Publikum, kann sich der Mensch bei seinen Freunden gewiß gewärtigen. Ich that es. Beru- higen Sie sich wo möglich auch; und schütten Sie lieber Ein- mal ganz Ihre Vorwürfe und mein Vergehen aus! Ist aber das Herz davon nicht zu reinigen, so muß die unbezwingliche Neigung zu mir neben solcher Mißbilligung ewig nur wie- der Schmerzen machen; Ihnen und mir. Und bedenken Sie,
immer zufrieden, oder vielmehr fertig, über die Ereigniſſe. Nur Eins iſt anders in mir. Ich kenne den Tod mehr, durch Mama. Und ſehe ihn überall; und er hat auch mehr Macht über mich bekommen. Ich bin ſterblicher geworden. Ängſtigen thut mich das nicht beſonders: aber ärgerlich macht es mich. Ich habe beſtändig vor Augen, wie Einer umfalltn kann, ver- welkt, wie eine andere Pflanze, mitten drin. Es kann mich gar nicht rühren, aber ſo ekeln, ſo ärgern. Und daß man nicht durch ſeinen Willen leben bleiben kann! und ſo ekelhaft wird; verſteinerte man doch! —
An Frau von F., in Berlin.
Berlin, den 17. Mai 1810.
— Aber Liebe! Was ſoll ich wohl ſprechen, nachdem Sie mir meine eigenen Worte ſo im ſchlimmen Sinn angeführt haben; mit welchem Zutrauen kann ich ſprechen, wenn Sie mich ſo, nicht aus Bosheit, aber im Ernſte auslegen! Ein Menſch, wie ein Buch, kann dem Sinne nach zerriſſen werden, und dann kann man alles daraus machen. Das pflegt ſich Fichte beim Anfang ſeiner Bücher zu verbitten. Dies Recht des Denkers an ein feindliches Publikum, kann ſich der Menſch bei ſeinen Freunden gewiß gewärtigen. Ich that es. Beru- higen Sie ſich wo möglich auch; und ſchütten Sie lieber Ein- mal ganz Ihre Vorwürfe und mein Vergehen aus! Iſt aber das Herz davon nicht zu reinigen, ſo muß die unbezwingliche Neigung zu mir neben ſolcher Mißbilligung ewig nur wie- der Schmerzen machen; Ihnen und mir. Und bedenken Sie,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0487"n="473"/>
immer zufrieden, oder vielmehr fertig, über die Ereigniſſe. Nur<lb/>
Eins iſt anders in mir. Ich kenne den Tod mehr, durch<lb/>
Mama. Und ſehe ihn überall; und er hat auch mehr Macht<lb/>
über mich bekommen. Ich bin ſterblicher geworden. Ängſtigen<lb/>
thut mich das nicht beſonders: aber ärgerlich macht es mich.<lb/>
Ich habe beſtändig vor Augen, wie Einer umfalltn kann, ver-<lb/>
welkt, wie eine andere Pflanze, mitten drin. Es kann mich<lb/>
gar nicht rühren, aber ſo ekeln, ſo ärgern. Und daß man<lb/>
nicht durch ſeinen Willen leben bleiben kann! und ſo ekelhaft<lb/>
wird; verſteinerte man doch! —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>An Frau von F., in Berlin.</head><lb/><dateline><hirendition="#et">Berlin, den 17. Mai 1810.</hi></dateline><lb/><p>— Aber Liebe! Was ſoll ich wohl ſprechen, nachdem Sie<lb/>
mir meine eigenen Worte ſo im ſchlimmen Sinn angeführt<lb/>
haben; mit welchem Zutrauen kann ich ſprechen, wenn Sie<lb/>
mich ſo, nicht aus Bosheit, aber im Ernſte auslegen! Ein<lb/>
Menſch, wie ein Buch, kann dem Sinne nach zerriſſen werden,<lb/>
und dann kann man alles daraus machen. Das pflegt ſich<lb/>
Fichte beim Anfang ſeiner Bücher zu verbitten. Dies Recht<lb/>
des Denkers an ein feindliches Publikum, kann ſich der Menſch<lb/>
bei ſeinen Freunden gewiß gewärtigen. Ich that es. Beru-<lb/>
higen Sie ſich wo möglich auch; und ſchütten Sie lieber Ein-<lb/>
mal ganz Ihre Vorwürfe und mein Vergehen aus! Iſt aber<lb/>
das Herz davon nicht zu reinigen, ſo muß die unbezwingliche<lb/>
Neigung zu mir neben <hirendition="#g">ſolcher</hi> Mißbilligung ewig nur wie-<lb/>
der Schmerzen machen; Ihnen und mir. Und bedenken Sie,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[473/0487]
immer zufrieden, oder vielmehr fertig, über die Ereigniſſe. Nur
Eins iſt anders in mir. Ich kenne den Tod mehr, durch
Mama. Und ſehe ihn überall; und er hat auch mehr Macht
über mich bekommen. Ich bin ſterblicher geworden. Ängſtigen
thut mich das nicht beſonders: aber ärgerlich macht es mich.
Ich habe beſtändig vor Augen, wie Einer umfalltn kann, ver-
welkt, wie eine andere Pflanze, mitten drin. Es kann mich
gar nicht rühren, aber ſo ekeln, ſo ärgern. Und daß man
nicht durch ſeinen Willen leben bleiben kann! und ſo ekelhaft
wird; verſteinerte man doch! —
An Frau von F., in Berlin.
Berlin, den 17. Mai 1810.
— Aber Liebe! Was ſoll ich wohl ſprechen, nachdem Sie
mir meine eigenen Worte ſo im ſchlimmen Sinn angeführt
haben; mit welchem Zutrauen kann ich ſprechen, wenn Sie
mich ſo, nicht aus Bosheit, aber im Ernſte auslegen! Ein
Menſch, wie ein Buch, kann dem Sinne nach zerriſſen werden,
und dann kann man alles daraus machen. Das pflegt ſich
Fichte beim Anfang ſeiner Bücher zu verbitten. Dies Recht
des Denkers an ein feindliches Publikum, kann ſich der Menſch
bei ſeinen Freunden gewiß gewärtigen. Ich that es. Beru-
higen Sie ſich wo möglich auch; und ſchütten Sie lieber Ein-
mal ganz Ihre Vorwürfe und mein Vergehen aus! Iſt aber
das Herz davon nicht zu reinigen, ſo muß die unbezwingliche
Neigung zu mir neben ſolcher Mißbilligung ewig nur wie-
der Schmerzen machen; Ihnen und mir. Und bedenken Sie,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/487>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.