Empörung und Wahrheit. (Wie Dichtung und Wahrheit.)
Sonntag, den 26. August 1810.
Ich habe nie solchen Fleiß und solche Anstrengung ge- sehen noch imaginirt, als die G. anwendet, um alles in sich zu verwirren; zu läugnen was wahr ist, und zu scheinen was nicht existiren kann. Sie hat gar kein Gewissen. Wenn sie sich auch manchmal eins über etwas macht. Ihre Reue ist mir nur ekelhaft, und nie rührend; daher ist sie auch so häufig. Die ist bei ihr ein Schlafrock, ganz kokett fabrizirt, der einem weißmachen soll, nun sei ihr behaglich, endlich sei sie natür- lich: sie ist nichts als ein halsstarriges Fortspielen der Lüge; welches bis zur Bestrafungslust empört. Sie ist komplet und absolut überzeugungsunfähig; und recht innerlich widerwärtig. Hat Verstand, ist listig; in einem beschränkten Kreise witzig, aber völlig ohne Sinn: daher ist ihr Musik und das ganze Gefolge von Künsten durchaus verschlossen und ganz fremd, die ganze Atmosphäre und Pflanzennatur ist ihr zu; die wahre Natur der Dinge, wie sie zu einander stehen, bleibt ihr auch fern; weil sie nur vom Allgemeinen auf's Einzelne, aber nicht von diesem zu jenem mit ihren Gedanken gelangen kann. Halb ist das ein Unvermögen des Kopfes, halb eigennützige Eitelkeit. Kurz, so in der Tiefe sah ich noch nie einen Men- schen unehrlich und geschäftig lügen, als sie. Dies reizt mich auch immer wieder, sie anzusehen. --
Robert verglich eine andre Frau mit ihr. Gott behüte! sagte ich, mit der hat nichts Ähnlichkeit; die ist einzig; das
Empörung und Wahrheit. (Wie Dichtung und Wahrheit.)
Sonntag, den 26. Auguſt 1810.
Ich habe nie ſolchen Fleiß und ſolche Anſtrengung ge- ſehen noch imaginirt, als die G. anwendet, um alles in ſich zu verwirren; zu läugnen was wahr iſt, und zu ſcheinen was nicht exiſtiren kann. Sie hat gar kein Gewiſſen. Wenn ſie ſich auch manchmal eins über etwas macht. Ihre Reue iſt mir nur ekelhaft, und nie rührend; daher iſt ſie auch ſo häufig. Die iſt bei ihr ein Schlafrock, ganz kokett fabrizirt, der einem weißmachen ſoll, nun ſei ihr behaglich, endlich ſei ſie natür- lich: ſie iſt nichts als ein halsſtarriges Fortſpielen der Lüge; welches bis zur Beſtrafungsluſt empört. Sie iſt komplet und abſolut überzeugungsunfähig; und recht innerlich widerwärtig. Hat Verſtand, iſt liſtig; in einem beſchränkten Kreiſe witzig, aber völlig ohne Sinn: daher iſt ihr Muſik und das ganze Gefolge von Künſten durchaus verſchloſſen und ganz fremd, die ganze Atmoſphäre und Pflanzennatur iſt ihr zu; die wahre Natur der Dinge, wie ſie zu einander ſtehen, bleibt ihr auch fern; weil ſie nur vom Allgemeinen auf’s Einzelne, aber nicht von dieſem zu jenem mit ihren Gedanken gelangen kann. Halb iſt das ein Unvermögen des Kopfes, halb eigennützige Eitelkeit. Kurz, ſo in der Tiefe ſah ich noch nie einen Men- ſchen unehrlich und geſchäftig lügen, als ſie. Dies reizt mich auch immer wieder, ſie anzuſehen. —
Robert verglich eine andre Frau mit ihr. Gott behüte! ſagte ich, mit der hat nichts Ähnlichkeit; die iſt einzig; das
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Empörung und Wahrheit.
(Wie Dichtung und Wahrheit.)
Sonntag, den 26. Auguſt 1810.
Ich habe nie ſolchen Fleiß und ſolche Anſtrengung ge-
ſehen noch imaginirt, als die G. anwendet, um alles in ſich
zu verwirren; zu läugnen was wahr iſt, und zu ſcheinen was
nicht exiſtiren kann. Sie hat gar kein Gewiſſen. Wenn ſie
ſich auch manchmal eins über etwas macht. Ihre Reue iſt
mir nur ekelhaft, und nie rührend; daher iſt ſie auch ſo häufig.
Die iſt bei ihr ein Schlafrock, ganz kokett fabrizirt, der einem
weißmachen ſoll, nun ſei ihr behaglich, endlich ſei ſie natür-
lich: ſie iſt nichts als ein halsſtarriges Fortſpielen der Lüge;
welches bis zur Beſtrafungsluſt empört. Sie iſt komplet und
abſolut überzeugungsunfähig; und recht innerlich widerwärtig.
Hat Verſtand, iſt liſtig; in einem beſchränkten Kreiſe witzig,
aber völlig ohne Sinn: daher iſt ihr Muſik und das ganze
Gefolge von Künſten durchaus verſchloſſen und ganz fremd,
die ganze Atmoſphäre und Pflanzennatur iſt ihr zu; die wahre
Natur der Dinge, wie ſie zu einander ſtehen, bleibt ihr auch
fern; weil ſie nur vom Allgemeinen auf’s Einzelne, aber nicht
von dieſem zu jenem mit ihren Gedanken gelangen kann.
Halb iſt das ein Unvermögen des Kopfes, halb eigennützige
Eitelkeit. Kurz, ſo in der Tiefe ſah ich noch nie einen Men-
ſchen unehrlich und geſchäftig lügen, als ſie. Dies reizt mich
auch immer wieder, ſie anzuſehen. —
Robert verglich eine andre Frau mit ihr. Gott behüte!
ſagte ich, mit der hat nichts Ähnlichkeit; die iſt einzig; das
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/491>, abgerufen am 23.12.2024.
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