"träumte mir einmal, ich sähe den lieben Gott ganz nahe, er hatte sich über mir ausgebreitet, und sein Mantel war der ganze Himmel; auf einer Ecke dieses Mantels durfte ich ruhen, und lag in beglücktem Frieden zum Entschlummern da. Seit- dem kehrte mir dieser Traum durch mein ganzes Leben immer wieder, und in den schlimmsten Zeiten war mir dieselbe Vor- stellung auch im Wachen gegenwärtig, und ein himmlischer Trost: ich durfte mich zu den Füßen Gottes auf eine Ecke seines Mantels legen, und da jeder Sorge frei werden; er erlaubte es." Wie oft noch in der Folge hörte ich sie dann mit dem ihr ganz eigenen, rührenden Stimmenlaute bei und nach den angstvollsten Leiden vertrauend sagen: "Ich lege mich auf Gottes Mantel, er erlaubt es. Wenn ich auch leide, ich bin doch glücklich, Gott ist ja bei mir, ich bin in seiner Hand, und er weiß alles am besten, was mir gut ist, und warum es so sein muß!" Die erhabensten Gedanken und die lieblichsten Kindervorstellungen waren ihr von jeher in gleichem Maße angehörig und mit einander verknüpft.
Auch in Betreff naher und ferner Personen zeigten Rahels Äußerungen eine erhöhte Innigkeit, jedes liebreiche und herz- liche Verhältniß wurde ihr angelegener, jedes herbe und widrige entrückter oder milder. Versöhnung lag in ihr zu allen Zeiten schon immer für alles Geschehene bereit, ihr guter Wille war schon begnügt, wenn nur der Andre sein Unrecht zu vergessen schien; jetzt wollte sie für alles und jedes wechselseitige Ver- zeihung ausgesprochen wissen. Bestätigt und gesegnet aber sollte ihr jedes Wahre und Gute sein, und sie verhehlte es nicht, daß jedes ächte Gebild ihres Lebens, jede wahre und
„träumte mir einmal, ich ſähe den lieben Gott ganz nahe, er hatte ſich über mir ausgebreitet, und ſein Mantel war der ganze Himmel; auf einer Ecke dieſes Mantels durfte ich ruhen, und lag in beglücktem Frieden zum Entſchlummern da. Seit- dem kehrte mir dieſer Traum durch mein ganzes Leben immer wieder, und in den ſchlimmſten Zeiten war mir dieſelbe Vor- ſtellung auch im Wachen gegenwärtig, und ein himmliſcher Troſt: ich durfte mich zu den Füßen Gottes auf eine Ecke ſeines Mantels legen, und da jeder Sorge frei werden; er erlaubte es.“ Wie oft noch in der Folge hörte ich ſie dann mit dem ihr ganz eigenen, rührenden Stimmenlaute bei und nach den angſtvollſten Leiden vertrauend ſagen: „Ich lege mich auf Gottes Mantel, er erlaubt es. Wenn ich auch leide, ich bin doch glücklich, Gott iſt ja bei mir, ich bin in ſeiner Hand, und er weiß alles am beſten, was mir gut iſt, und warum es ſo ſein muß!“ Die erhabenſten Gedanken und die lieblichſten Kindervorſtellungen waren ihr von jeher in gleichem Maße angehörig und mit einander verknüpft.
Auch in Betreff naher und ferner Perſonen zeigten Rahels Äußerungen eine erhöhte Innigkeit, jedes liebreiche und herz- liche Verhältniß wurde ihr angelegener, jedes herbe und widrige entrückter oder milder. Verſöhnung lag in ihr zu allen Zeiten ſchon immer für alles Geſchehene bereit, ihr guter Wille war ſchon begnügt, wenn nur der Andre ſein Unrecht zu vergeſſen ſchien; jetzt wollte ſie für alles und jedes wechſelſeitige Ver- zeihung ausgeſprochen wiſſen. Beſtätigt und geſegnet aber ſollte ihr jedes Wahre und Gute ſein, und ſie verhehlte es nicht, daß jedes ächte Gebild ihres Lebens, jede wahre und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0051"n="37"/>„träumte mir einmal, ich ſähe den lieben Gott ganz nahe, er<lb/>
hatte ſich über mir ausgebreitet, und ſein Mantel war der<lb/>
ganze Himmel; auf einer Ecke dieſes Mantels durfte ich ruhen,<lb/>
und lag in beglücktem Frieden zum Entſchlummern da. Seit-<lb/>
dem kehrte mir dieſer Traum durch mein ganzes Leben immer<lb/>
wieder, und in den ſchlimmſten Zeiten war mir dieſelbe Vor-<lb/>ſtellung auch im Wachen gegenwärtig, und ein himmliſcher<lb/>
Troſt: ich durfte mich zu den Füßen Gottes auf eine Ecke<lb/>ſeines Mantels legen, und da jeder Sorge frei werden; er<lb/>
erlaubte es.“ Wie oft noch in der Folge hörte ich ſie dann<lb/>
mit dem ihr ganz eigenen, rührenden Stimmenlaute bei und<lb/>
nach den angſtvollſten Leiden vertrauend ſagen: „Ich lege<lb/>
mich auf Gottes Mantel, er erlaubt es. Wenn ich auch leide,<lb/>
ich bin <hirendition="#g">doch</hi> glücklich, <hirendition="#g">Gott</hi> iſt ja bei mir, ich bin in ſeiner<lb/>
Hand, und er weiß alles am beſten, was mir gut iſt, und<lb/>
warum es ſo ſein muß!“ Die erhabenſten Gedanken und<lb/>
die lieblichſten Kindervorſtellungen waren ihr von jeher in<lb/>
gleichem Maße angehörig und mit einander verknüpft.</p><lb/><p>Auch in Betreff naher und ferner Perſonen zeigten Rahels<lb/>
Äußerungen eine erhöhte Innigkeit, jedes liebreiche und herz-<lb/>
liche Verhältniß wurde ihr angelegener, jedes herbe und widrige<lb/>
entrückter oder milder. Verſöhnung lag in ihr zu allen Zeiten<lb/>ſchon immer für alles Geſchehene bereit, ihr guter Wille war<lb/>ſchon begnügt, wenn nur der Andre ſein Unrecht zu vergeſſen<lb/>ſchien; jetzt wollte ſie für alles und jedes wechſelſeitige Ver-<lb/>
zeihung ausgeſprochen wiſſen. Beſtätigt und geſegnet aber<lb/>ſollte ihr jedes Wahre und Gute ſein, und ſie verhehlte es<lb/>
nicht, daß jedes ächte Gebild ihres Lebens, jede wahre und<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[37/0051]
„träumte mir einmal, ich ſähe den lieben Gott ganz nahe, er
hatte ſich über mir ausgebreitet, und ſein Mantel war der
ganze Himmel; auf einer Ecke dieſes Mantels durfte ich ruhen,
und lag in beglücktem Frieden zum Entſchlummern da. Seit-
dem kehrte mir dieſer Traum durch mein ganzes Leben immer
wieder, und in den ſchlimmſten Zeiten war mir dieſelbe Vor-
ſtellung auch im Wachen gegenwärtig, und ein himmliſcher
Troſt: ich durfte mich zu den Füßen Gottes auf eine Ecke
ſeines Mantels legen, und da jeder Sorge frei werden; er
erlaubte es.“ Wie oft noch in der Folge hörte ich ſie dann
mit dem ihr ganz eigenen, rührenden Stimmenlaute bei und
nach den angſtvollſten Leiden vertrauend ſagen: „Ich lege
mich auf Gottes Mantel, er erlaubt es. Wenn ich auch leide,
ich bin doch glücklich, Gott iſt ja bei mir, ich bin in ſeiner
Hand, und er weiß alles am beſten, was mir gut iſt, und
warum es ſo ſein muß!“ Die erhabenſten Gedanken und
die lieblichſten Kindervorſtellungen waren ihr von jeher in
gleichem Maße angehörig und mit einander verknüpft.
Auch in Betreff naher und ferner Perſonen zeigten Rahels
Äußerungen eine erhöhte Innigkeit, jedes liebreiche und herz-
liche Verhältniß wurde ihr angelegener, jedes herbe und widrige
entrückter oder milder. Verſöhnung lag in ihr zu allen Zeiten
ſchon immer für alles Geſchehene bereit, ihr guter Wille war
ſchon begnügt, wenn nur der Andre ſein Unrecht zu vergeſſen
ſchien; jetzt wollte ſie für alles und jedes wechſelſeitige Ver-
zeihung ausgeſprochen wiſſen. Beſtätigt und geſegnet aber
ſollte ihr jedes Wahre und Gute ſein, und ſie verhehlte es
nicht, daß jedes ächte Gebild ihres Lebens, jede wahre und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/51>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.