Gestern war ich in einer Gesellschaft, wo man durchaus, weil Sylvester war, eine haben wollte, und in dem Sinne auch mich eingeladen hatte; keiner besaß dort mein Herz, aber für Alle war es doch recht wohlgesinnt. Man sah gegen Mitter- nacht öfters nach den Uhren, wovon meine Unruhe geweckt wurde; bei jedemmale mehr, endlich schlug es 12; Alle standen mit den Gläsern auf, und wünschten! Ich kann Ihnen die namen lose Trauer von mir nicht ausprechen! kaum konnt' ich stehen; nur großer Jammer fiel mir ein, -- an mich dacht' ich nur undeutlich -- jetzt wein' ich auch --, zwei waren da- runter, die dies Jahr schwere Krankheiten überstanden hatten; und ich, die Gesteinigte, stand auch da. An die zwei hielten meine Gedanken sich, und ich war die Einzige, die wahrhaft litt, und selbst die Einzige, die an die Kranken dachte: die Eine hatte ihren Mann, der Andere seine Frau da. Nein! nein! Von Glück muß die Rede nicht mehr sein! Von nichts mehr! Denn zu meinem eigenen Skandal muß ich über alles weinen; aus Herzens- und Augenschwäche; wie erbärmlich, miseable: mir ganz verhaßt und verächtlich! Aber zu miß- handelt wurde -- wird -- die Natur, aus der ich bestand! Nun kein Wort mehr! Auch keine Entschuldigung: solche Worte entschuldigen, wie Geschrei, sich selbst.
Als ich Ihnen gestern antworten wollte, las ich natürlich Ihren Brief noch einmal, und machte mir bei jedem zu beant- wortenden Punkte ein Kreuz am Rand. Nun will ich mal nachsehen! An welchen noch "Anderen" als an Fichte wollten Sie denn den Erwachsenen weisen, der Christi Lehren erfassen möchte? Der Erwachsene bin ich.
Geſtern war ich in einer Geſellſchaft, wo man durchaus, weil Sylveſter war, eine haben wollte, und in dem Sinne auch mich eingeladen hatte; keiner beſaß dort mein Herz, aber für Alle war es doch recht wohlgeſinnt. Man ſah gegen Mitter- nacht öfters nach den Uhren, wovon meine Unruhe geweckt wurde; bei jedemmale mehr, endlich ſchlug es 12; Alle ſtanden mit den Gläſern auf, und wünſchten! Ich kann Ihnen die namen loſe Trauer von mir nicht ausprechen! kaum konnt’ ich ſtehen; nur großer Jammer fiel mir ein, — an mich dacht’ ich nur undeutlich — jetzt wein’ ich auch —, zwei waren da- runter, die dies Jahr ſchwere Krankheiten überſtanden hatten; und ich, die Geſteinigte, ſtand auch da. An die zwei hielten meine Gedanken ſich, und ich war die Einzige, die wahrhaft litt, und ſelbſt die Einzige, die an die Kranken dachte: die Eine hatte ihren Mann, der Andere ſeine Frau da. Nein! nein! Von Glück muß die Rede nicht mehr ſein! Von nichts mehr! Denn zu meinem eigenen Skandal muß ich über alles weinen; aus Herzens- und Augenſchwäche; wie erbärmlich, miséable: mir ganz verhaßt und verächtlich! Aber zu miß- handelt wurde — wird — die Natur, aus der ich beſtand! Nun kein Wort mehr! Auch keine Entſchuldigung: ſolche Worte entſchuldigen, wie Geſchrei, ſich ſelbſt.
Als ich Ihnen geſtern antworten wollte, las ich natürlich Ihren Brief noch einmal, und machte mir bei jedem zu beant- wortenden Punkte ein Kreuz am Rand. Nun will ich mal nachſehen! An welchen noch „Anderen“ als an Fichte wollten Sie denn den Erwachſenen weiſen, der Chriſti Lehren erfaſſen möchte? Der Erwachſene bin ich.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0600"n="586"/>
Geſtern war ich in einer Geſellſchaft, wo man durchaus, weil<lb/>
Sylveſter war, eine haben wollte, und in dem Sinne auch<lb/>
mich eingeladen hatte; keiner beſaß dort mein Herz, aber für<lb/>
Alle war es doch recht wohlgeſinnt. Man ſah gegen Mitter-<lb/>
nacht öfters nach den Uhren, wovon meine Unruhe geweckt<lb/>
wurde; bei jedemmale mehr, endlich ſchlug es 12; Alle ſtanden<lb/>
mit den Gläſern auf, und wünſchten! Ich kann Ihnen die<lb/>
namen <hirendition="#g">loſe</hi> Trauer von mir nicht ausprechen! kaum konnt’<lb/>
ich ſtehen; nur großer Jammer fiel mir ein, — an mich dacht’<lb/>
ich nur undeutlich — jetzt wein’ ich auch —, zwei waren da-<lb/>
runter, die dies Jahr ſchwere Krankheiten überſtanden hatten;<lb/>
und ich, die Geſteinigte, ſtand auch da. An die zwei hielten<lb/>
meine Gedanken ſich, und ich war die Einzige, die wahrhaft<lb/>
litt, und ſelbſt die Einzige, die an die Kranken dachte: die<lb/>
Eine hatte ihren Mann, der Andere ſeine Frau da. Nein!<lb/>
nein! Von Glück muß die Rede nicht mehr ſein! Von nichts<lb/>
mehr! Denn zu meinem eigenen Skandal muß ich über alles<lb/>
weinen; aus Herzens- und Augenſchwäche; wie erbärmlich,<lb/><hirendition="#aq">miséable:</hi> mir ganz verhaßt und verächtlich! Aber zu miß-<lb/>
handelt wurde — wird — die Natur, aus der ich beſtand!<lb/>
Nun kein Wort mehr! Auch keine Entſchuldigung: ſolche<lb/>
Worte entſchuldigen, wie Geſchrei, ſich ſelbſt.</p><lb/><p>Als ich Ihnen geſtern antworten wollte, las ich natürlich<lb/>
Ihren Brief noch einmal, und machte mir bei jedem zu beant-<lb/>
wortenden Punkte ein Kreuz am Rand. Nun will ich mal<lb/>
nachſehen! An welchen noch „Anderen“ als an Fichte wollten<lb/>
Sie denn den Erwachſenen weiſen, der Chriſti Lehren erfaſſen<lb/>
möchte? Der Erwachſene bin ich.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[586/0600]
Geſtern war ich in einer Geſellſchaft, wo man durchaus, weil
Sylveſter war, eine haben wollte, und in dem Sinne auch
mich eingeladen hatte; keiner beſaß dort mein Herz, aber für
Alle war es doch recht wohlgeſinnt. Man ſah gegen Mitter-
nacht öfters nach den Uhren, wovon meine Unruhe geweckt
wurde; bei jedemmale mehr, endlich ſchlug es 12; Alle ſtanden
mit den Gläſern auf, und wünſchten! Ich kann Ihnen die
namen loſe Trauer von mir nicht ausprechen! kaum konnt’
ich ſtehen; nur großer Jammer fiel mir ein, — an mich dacht’
ich nur undeutlich — jetzt wein’ ich auch —, zwei waren da-
runter, die dies Jahr ſchwere Krankheiten überſtanden hatten;
und ich, die Geſteinigte, ſtand auch da. An die zwei hielten
meine Gedanken ſich, und ich war die Einzige, die wahrhaft
litt, und ſelbſt die Einzige, die an die Kranken dachte: die
Eine hatte ihren Mann, der Andere ſeine Frau da. Nein!
nein! Von Glück muß die Rede nicht mehr ſein! Von nichts
mehr! Denn zu meinem eigenen Skandal muß ich über alles
weinen; aus Herzens- und Augenſchwäche; wie erbärmlich,
miséable: mir ganz verhaßt und verächtlich! Aber zu miß-
handelt wurde — wird — die Natur, aus der ich beſtand!
Nun kein Wort mehr! Auch keine Entſchuldigung: ſolche
Worte entſchuldigen, wie Geſchrei, ſich ſelbſt.
Als ich Ihnen geſtern antworten wollte, las ich natürlich
Ihren Brief noch einmal, und machte mir bei jedem zu beant-
wortenden Punkte ein Kreuz am Rand. Nun will ich mal
nachſehen! An welchen noch „Anderen“ als an Fichte wollten
Sie denn den Erwachſenen weiſen, der Chriſti Lehren erfaſſen
möchte? Der Erwachſene bin ich.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 586. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/600>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.