Gestern erhielt ich euren Brief mit dem Kourier, und will auch gleich heute antworten, weil morgen wieder zu euch einer abgeht. -- Ich hasse, und immer mehr, alles was nicht die Umstände als natürlich erlauben; weil nie daraus etwas Gut- gegliedertes, Mildes wird, und schon ein verrenktes Streben voraus setzt, wozu einem die ganze Welt nicht günstig ist, sonst hätte man's nicht nöthig. Gott und die Welt mein' ich. Ich denke über die Versorgung wie du, und sorge natürlich mit; aber da ich der Menschen Verkehr und Zustände nun ein- mal nach meiner Weise kenne und sehe, so denk' ich auch hin- wiederum, obgleich sich die Kinder aus den ersten Banden sehnen müssen und mögen, neue Lagen und Verhältnisse dun- kel und wogenhaft sich vorstellen; so bleibt eben diese Mög- lichkeits-Zeit, meiner ganzen Einsicht nach, ihre beste; ihre vornehmste, adlichste, und horizontvollste; und eben deßwegen reichste, weil sie ihnen noch gewährt hinauszuschauen! -- ich bin also vergnügt, wenn sie Gefährten, Handlungsraum fin- den und gewinnen; und bin sehr vergnügt, wenn sie's noch lange in Schutz erwarten; verstehen sie ihre Lage auch nicht ganz, so fühlen sie sie doch wie Jugend, und Gesundheit: und denen brauch' ich das Wort nicht zu reden, nur zu seufzen mit allen Gebornen, daß sie unwiederbringlich sind, und nur rückwärts geschaut werden können.
Die Konferenzen dauren fort: einer spricht so, der andere
An M. Th. Robert, in Berlin.
Wien, den 15. Januar 1815.
Geſtern erhielt ich euren Brief mit dem Kourier, und will auch gleich heute antworten, weil morgen wieder zu euch einer abgeht. — Ich haſſe, und immer mehr, alles was nicht die Umſtände als natürlich erlauben; weil nie daraus etwas Gut- gegliedertes, Mildes wird, und ſchon ein verrenktes Streben voraus ſetzt, wozu einem die ganze Welt nicht günſtig iſt, ſonſt hätte man’s nicht nöthig. Gott und die Welt mein’ ich. Ich denke über die Verſorgung wie du, und ſorge natürlich mit; aber da ich der Menſchen Verkehr und Zuſtände nun ein- mal nach meiner Weiſe kenne und ſehe, ſo denk’ ich auch hin- wiederum, obgleich ſich die Kinder aus den erſten Banden ſehnen müſſen und mögen, neue Lagen und Verhältniſſe dun- kel und wogenhaft ſich vorſtellen; ſo bleibt eben dieſe Mög- lichkeits-Zeit, meiner ganzen Einſicht nach, ihre beſte; ihre vornehmſte, adlichſte, und horizontvollſte; und eben deßwegen reichſte, weil ſie ihnen noch gewährt hinauszuſchauen! — ich bin alſo vergnügt, wenn ſie Gefährten, Handlungsraum fin- den und gewinnen; und bin ſehr vergnügt, wenn ſie’s noch lange in Schutz erwarten; verſtehen ſie ihre Lage auch nicht ganz, ſo fühlen ſie ſie doch wie Jugend, und Geſundheit: und denen brauch’ ich das Wort nicht zu reden, nur zu ſeufzen mit allen Gebornen, daß ſie unwiederbringlich ſind, und nur rückwärts geſchaut werden können.
Die Konferenzen dauren fort: einer ſpricht ſo, der andere
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[252/0260]
An M. Th. Robert, in Berlin.
Wien, den 15. Januar 1815.
Geſtern erhielt ich euren Brief mit dem Kourier, und will
auch gleich heute antworten, weil morgen wieder zu euch einer
abgeht. — Ich haſſe, und immer mehr, alles was nicht die
Umſtände als natürlich erlauben; weil nie daraus etwas Gut-
gegliedertes, Mildes wird, und ſchon ein verrenktes Streben
voraus ſetzt, wozu einem die ganze Welt nicht günſtig iſt,
ſonſt hätte man’s nicht nöthig. Gott und die Welt mein’ ich.
Ich denke über die Verſorgung wie du, und ſorge natürlich
mit; aber da ich der Menſchen Verkehr und Zuſtände nun ein-
mal nach meiner Weiſe kenne und ſehe, ſo denk’ ich auch hin-
wiederum, obgleich ſich die Kinder aus den erſten Banden
ſehnen müſſen und mögen, neue Lagen und Verhältniſſe dun-
kel und wogenhaft ſich vorſtellen; ſo bleibt eben dieſe Mög-
lichkeits-Zeit, meiner ganzen Einſicht nach, ihre beſte; ihre
vornehmſte, adlichſte, und horizontvollſte; und eben deßwegen
reichſte, weil ſie ihnen noch gewährt hinauszuſchauen! — ich
bin alſo vergnügt, wenn ſie Gefährten, Handlungsraum fin-
den und gewinnen; und bin ſehr vergnügt, wenn ſie’s noch
lange in Schutz erwarten; verſtehen ſie ihre Lage auch nicht
ganz, ſo fühlen ſie ſie doch wie Jugend, und Geſundheit: und
denen brauch’ ich das Wort nicht zu reden, nur zu ſeufzen
mit allen Gebornen, daß ſie unwiederbringlich ſind, und nur
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/260>, abgerufen am 21.11.2024.
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