Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

von fremdem Geist, uns entgegentritt. Ach, warum mußtest
du mich auch jetzt schon so stark halten, daß heute dieser Brief
kam. Ich fühlte mich eben so krank, daß ich es nicht mehr
zu scheiden wußte, wer den andern erst so gemacht hatte, Ge-
danke oder Körper; aber durch lange Tage und Nächte durch,
hatte ich mir die schärfste, genauste, unumstößlichste Rechen-
schaft noch Einmal gegeben, wo die wahre Wendung meines
Wesens geschah, welche mein ganzes Schicksal gründen mußte:
denn eine gewaltsame, nicht liebliche ist vorgefallen; und
Karakter bildet Schicksal, Naturingredienzien so oder so ge-
stellt. Ereigniß, und Gründe, erwog ich noch Einmal! und
ach! zu was als humilite -- ich kann das deutsche Wort nicht
finden -- zu Verzweiflung der Edlen, konnte dies führen.
Und wie zu einem Chore kam dein Brief die Tragödie voll-
kommen zu machen. Laß es dir nicht leid sein, auch viel Liebe
habe ich darin erfahren; und mein noch lebendes Herz hat
sie wohl, ja ganz erkannt. Ärgeres noch, als in deinem pa-
negyrique
steht, sagt sich die arme ausgesetzte Rahel! Dies
können die Menschen glauben, du weißt es; wenn Großes,
Besonderes in ihr ist, so ist es das; sie weiß, was in ihrem
Kreise ist, und sieht und sagt sich das Härteste, wie wohl sel-
ten ein Mensch dies auf der Erde that. Und so kann ich
sagen, mein Schmerz und mein Verlust ist unendlich; darum
verstehe ich auch alle andern -- Schmerzen, -- darum ist auch
der Verdruß immer so groß, wenn du, der Einzige, dem ich
so bekannt bin, der Engel, den mir Gott mit Trost in meine
Zeit schickte, wenn der abspringt, und mich ärgern mag, oder,
welches eins ist, sich selbst mit einemmale fehlt! -- Aus die-

von fremdem Geiſt, uns entgegentritt. Ach, warum mußteſt
du mich auch jetzt ſchon ſo ſtark halten, daß heute dieſer Brief
kam. Ich fühlte mich eben ſo krank, daß ich es nicht mehr
zu ſcheiden wußte, wer den andern erſt ſo gemacht hatte, Ge-
danke oder Körper; aber durch lange Tage und Nächte durch,
hatte ich mir die ſchärfſte, genauſte, unumſtößlichſte Rechen-
ſchaft noch Einmal gegeben, wo die wahre Wendung meines
Weſens geſchah, welche mein ganzes Schickſal gründen mußte:
denn eine gewaltſame, nicht liebliche iſt vorgefallen; und
Karakter bildet Schickſal, Naturingredienzien ſo oder ſo ge-
ſtellt. Ereigniß, und Gründe, erwog ich noch Einmal! und
ach! zu was als humilité — ich kann das deutſche Wort nicht
finden — zu Verzweiflung der Edlen, konnte dies führen.
Und wie zu einem Chore kam dein Brief die Tragödie voll-
kommen zu machen. Laß es dir nicht leid ſein, auch viel Liebe
habe ich darin erfahren; und mein noch lebendes Herz hat
ſie wohl, ja ganz erkannt. Ärgeres noch, als in deinem pa-
négyrique
ſteht, ſagt ſich die arme ausgeſetzte Rahel! Dies
können die Menſchen glauben, du weißt es; wenn Großes,
Beſonderes in ihr iſt, ſo iſt es das; ſie weiß, was in ihrem
Kreiſe iſt, und ſieht und ſagt ſich das Härteſte, wie wohl ſel-
ten ein Menſch dies auf der Erde that. Und ſo kann ich
ſagen, mein Schmerz und mein Verluſt iſt unendlich; darum
verſtehe ich auch alle andern — Schmerzen, — darum iſt auch
der Verdruß immer ſo groß, wenn du, der Einzige, dem ich
ſo bekannt bin, der Engel, den mir Gott mit Troſt in meine
Zeit ſchickte, wenn der abſpringt, und mich ärgern mag, oder,
welches eins iſt, ſich ſelbſt mit einemmale fehlt! — Aus die-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0029" n="21"/>
von fremdem Gei&#x017F;t, uns entgegentritt. Ach, warum mußte&#x017F;t<lb/>
du mich auch jetzt &#x017F;chon &#x017F;o &#x017F;tark halten, daß heute die&#x017F;er Brief<lb/>
kam. Ich fühlte mich eben &#x017F;o krank, daß ich es nicht mehr<lb/>
zu &#x017F;cheiden wußte, wer den andern er&#x017F;t &#x017F;o gemacht hatte, Ge-<lb/>
danke oder Körper; aber durch lange Tage und Nächte durch,<lb/>
hatte ich mir die &#x017F;chärf&#x017F;te, genau&#x017F;te, unum&#x017F;tößlich&#x017F;te Rechen-<lb/>
&#x017F;chaft noch Einmal gegeben, wo die wahre Wendung meines<lb/>
We&#x017F;ens ge&#x017F;chah, welche mein ganzes Schick&#x017F;al gründen mußte:<lb/>
denn <hi rendition="#g">eine</hi> gewalt&#x017F;ame, <hi rendition="#g">nicht</hi> liebliche <hi rendition="#g">i&#x017F;t</hi> vorgefallen; und<lb/>
Karakter bildet Schick&#x017F;al, Naturingredienzien &#x017F;o oder &#x017F;o ge-<lb/>
&#x017F;tellt. Ereigniß, und Gründe, erwog ich noch Einmal! und<lb/>
ach! zu was als <hi rendition="#aq">humilité</hi> &#x2014; ich kann das deut&#x017F;che Wort nicht<lb/>
finden &#x2014; zu Verzweiflung der Edlen, konnte dies führen.<lb/>
Und wie zu einem Chore kam dein Brief die Tragödie voll-<lb/>
kommen zu machen. Laß es dir nicht leid &#x017F;ein, auch viel Liebe<lb/>
habe ich darin erfahren; und mein noch lebendes Herz hat<lb/>
&#x017F;ie wohl, ja ganz erkannt. Ärgeres noch, als in deinem <hi rendition="#aq">pa-<lb/>
négyrique</hi> &#x017F;teht, &#x017F;agt &#x017F;ich die arme ausge&#x017F;etzte Rahel! Dies<lb/>
können die Men&#x017F;chen glauben, du weißt es; wenn Großes,<lb/>
Be&#x017F;onderes in ihr i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t es das; &#x017F;ie weiß, was in ihrem<lb/>
Krei&#x017F;e i&#x017F;t, und &#x017F;ieht und &#x017F;agt &#x017F;ich das Härte&#x017F;te, wie wohl &#x017F;el-<lb/>
ten ein Men&#x017F;ch dies auf der Erde that. Und &#x017F;o kann ich<lb/>
&#x017F;agen, mein Schmerz und mein Verlu&#x017F;t i&#x017F;t unendlich; darum<lb/>
ver&#x017F;tehe ich auch alle andern &#x2014; Schmerzen, &#x2014; darum i&#x017F;t auch<lb/>
der Verdruß immer &#x017F;o groß, wenn <hi rendition="#g">du</hi>, der Einzige, dem ich<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;o</hi> bekannt bin, der Engel, den mir Gott mit Tro&#x017F;t in meine<lb/>
Zeit &#x017F;chickte, wenn der ab&#x017F;pringt, und mich ärgern mag, oder,<lb/>
welches eins i&#x017F;t, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t mit einemmale fehlt! &#x2014; Aus die-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0029] von fremdem Geiſt, uns entgegentritt. Ach, warum mußteſt du mich auch jetzt ſchon ſo ſtark halten, daß heute dieſer Brief kam. Ich fühlte mich eben ſo krank, daß ich es nicht mehr zu ſcheiden wußte, wer den andern erſt ſo gemacht hatte, Ge- danke oder Körper; aber durch lange Tage und Nächte durch, hatte ich mir die ſchärfſte, genauſte, unumſtößlichſte Rechen- ſchaft noch Einmal gegeben, wo die wahre Wendung meines Weſens geſchah, welche mein ganzes Schickſal gründen mußte: denn eine gewaltſame, nicht liebliche iſt vorgefallen; und Karakter bildet Schickſal, Naturingredienzien ſo oder ſo ge- ſtellt. Ereigniß, und Gründe, erwog ich noch Einmal! und ach! zu was als humilité — ich kann das deutſche Wort nicht finden — zu Verzweiflung der Edlen, konnte dies führen. Und wie zu einem Chore kam dein Brief die Tragödie voll- kommen zu machen. Laß es dir nicht leid ſein, auch viel Liebe habe ich darin erfahren; und mein noch lebendes Herz hat ſie wohl, ja ganz erkannt. Ärgeres noch, als in deinem pa- négyrique ſteht, ſagt ſich die arme ausgeſetzte Rahel! Dies können die Menſchen glauben, du weißt es; wenn Großes, Beſonderes in ihr iſt, ſo iſt es das; ſie weiß, was in ihrem Kreiſe iſt, und ſieht und ſagt ſich das Härteſte, wie wohl ſel- ten ein Menſch dies auf der Erde that. Und ſo kann ich ſagen, mein Schmerz und mein Verluſt iſt unendlich; darum verſtehe ich auch alle andern — Schmerzen, — darum iſt auch der Verdruß immer ſo groß, wenn du, der Einzige, dem ich ſo bekannt bin, der Engel, den mir Gott mit Troſt in meine Zeit ſchickte, wenn der abſpringt, und mich ärgern mag, oder, welches eins iſt, ſich ſelbſt mit einemmale fehlt! — Aus die-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/29
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/29>, abgerufen am 21.11.2024.