nicht anders. Morgen bei Bentheims Schwester; -- heute fürcht' ich mich schon. --
Schreibe nur immer! Ich höre gar zu gerne von euch zu Hause! und wie dir ist. Es freut mich ungeheuer, daß ihr in den Thiergarten zieht; für's erste, nur gelebt! --
An M. Th. Robert, in Berlin.
Wien, den 14. April 1815.
Wie wandelt sich denn alles so von einem Tage zum andern, fragst du! Wärst du nur einen Tag hier! sprächest nur zehn bedeutende Leute aller Länder, und du würdest sehen, daß ein gehöriges Maß von Einsicht dazu gehört, einen kol- lektiven Begriff von diesen Wellen zu fassen, und Geist, um sie endlich Meer zu nennen. Ja! es wandelt alles, weil nur die gesammte Schwerkraft der Dinge langsam etwas schafft, rückt und gestaltet, denn nur sie dringt durch ein Gesetz nach einem Ziel; kein anderes herrscht. So weit ist es mit der alten großen stehenden Lüge gekommen, daß keiner ein Allge- meines mit seinen Augen ersieht, und jeder glaubt, in diesem schwindelnden Erblinden für seine Person, d. h. auch nur den nächsten Augenblick, handeln zu können, also zu müssen. Die Häupter merken dumpf, daß sie nur mit einer leeren Form hanthieren, können aber das Wesen nicht finden, warum es handelt, und welches in seinem ewigen Leben naturmäßig fort- agirt. So hält sich jeder an das ihm allernächste, kleine oder große Ereigniß, knüpft da seine Plane und Handlungen an,
nicht anders. Morgen bei Bentheims Schweſter; — heute fürcht’ ich mich ſchon. —
Schreibe nur immer! Ich höre gar zu gerne von euch zu Hauſe! und wie dir iſt. Es freut mich ungeheuer, daß ihr in den Thiergarten zieht; für’s erſte, nur gelebt! —
An M. Th. Robert, in Berlin.
Wien, den 14. April 1815.
Wie wandelt ſich denn alles ſo von einem Tage zum andern, fragſt du! Wärſt du nur einen Tag hier! ſprächeſt nur zehn bedeutende Leute aller Länder, und du würdeſt ſehen, daß ein gehöriges Maß von Einſicht dazu gehört, einen kol- lektiven Begriff von dieſen Wellen zu faſſen, und Geiſt, um ſie endlich Meer zu nennen. Ja! es wandelt alles, weil nur die geſammte Schwerkraft der Dinge langſam etwas ſchafft, rückt und geſtaltet, denn nur ſie dringt durch ein Geſetz nach einem Ziel; kein anderes herrſcht. So weit iſt es mit der alten großen ſtehenden Lüge gekommen, daß keiner ein Allge- meines mit ſeinen Augen erſieht, und jeder glaubt, in dieſem ſchwindelnden Erblinden für ſeine Perſon, d. h. auch nur den nächſten Augenblick, handeln zu können, alſo zu müſſen. Die Häupter merken dumpf, daß ſie nur mit einer leeren Form hanthieren, können aber das Weſen nicht finden, warum es handelt, und welches in ſeinem ewigen Leben naturmäßig fort- agirt. So hält ſich jeder an das ihm allernächſte, kleine oder große Ereigniß, knüpft da ſeine Plane und Handlungen an,
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nicht anders. Morgen bei Bentheims Schweſter; — heute
fürcht’ ich mich ſchon. —
Schreibe nur immer! Ich höre gar zu gerne von euch
zu Hauſe! und wie dir iſt. Es freut mich ungeheuer, daß ihr
in den Thiergarten zieht; für’s erſte, nur gelebt! —
An M. Th. Robert, in Berlin.
Wien, den 14. April 1815.
Wie wandelt ſich denn alles ſo von einem Tage zum
andern, fragſt du! Wärſt du nur einen Tag hier! ſprächeſt
nur zehn bedeutende Leute aller Länder, und du würdeſt ſehen,
daß ein gehöriges Maß von Einſicht dazu gehört, einen kol-
lektiven Begriff von dieſen Wellen zu faſſen, und Geiſt, um
ſie endlich Meer zu nennen. Ja! es wandelt alles, weil nur
die geſammte Schwerkraft der Dinge langſam etwas ſchafft,
rückt und geſtaltet, denn nur ſie dringt durch ein Geſetz nach
einem Ziel; kein anderes herrſcht. So weit iſt es mit der
alten großen ſtehenden Lüge gekommen, daß keiner ein Allge-
meines mit ſeinen Augen erſieht, und jeder glaubt, in dieſem
ſchwindelnden Erblinden für ſeine Perſon, d. h. auch nur den
nächſten Augenblick, handeln zu können, alſo zu müſſen. Die
Häupter merken dumpf, daß ſie nur mit einer leeren Form
hanthieren, können aber das Weſen nicht finden, warum es
handelt, und welches in ſeinem ewigen Leben naturmäßig fort-
agirt. So hält ſich jeder an das ihm allernächſte, kleine oder
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/292>, abgerufen am 21.11.2024.
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