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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

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die sich aber alle gesammt nach einem andern Punkte hinnei-
gend bewegen, der ein unsichtbarer ist, und in dessen Bahn die
Schwankungen in allen Richtungen gerade noch Raum haben.
Dies ist das Schwanken, nach dem du fragst, keiner hat
ganz Schuld, es ist die alte Geschichte, die sich als Lüge von
ihrem Boden wegschob, leben zu können wähnte: Lokale.
mechanische Wahrheit, Früchte des Daseienden, nahm ihre
Stelle ein, und wird sie weit weg drängen, als Dünger. In
dieser Lüge umstrickt waren auch wir geboren, und auch wir
leiden nach Maß unserer Geschichte, die wir im Entstehn
gleich mitbilden müssen, und im Maß unserer Theilnahme
an der Lüge, zu der wir nicht Klarheit und Streitkraft genug
hatten, sie zu bekämpfen. Mit "Wir" meine ich: ich und du,
und keiner ausgenommen. Vielleicht der Einsiedler in
Reinerz. Es wundert mich nicht, daß es Menschen giebt,
die den alten Weltschaden für unheilbar ansehn, lachen, wenn
sie nicht weinen müssen, und zum Gebrauch nehmen, was
ihnen nur irgend ein Narr lassen will, sie irgend kriegen
können. Unheilbar ist er für uns zeitliche Wesen, da er so
lange dauert. Ist die Harmonie (und der Drang dazu) der
Gedanken eines Menschen rege und stark genug, alles, was
in Auge und Ohr dringt, zu übertönen, so lebt er mehr innen,
und hat die Ewigkeit, die besteht in Unabhängigkeit, und
nicht in Zeitenreihe. Diese zwei Welten bewegen diese Welt.
Man hat, was man ist; was man ist, hat man bekommen.
Frömmer kann man nicht sein. Leiden thut man alles, denn
man leidet sich selbst.



die ſich aber alle geſammt nach einem andern Punkte hinnei-
gend bewegen, der ein unſichtbarer iſt, und in deſſen Bahn die
Schwankungen in allen Richtungen gerade noch Raum haben.
Dies iſt das Schwanken, nach dem du fragſt, keiner hat
ganz Schuld, es iſt die alte Geſchichte, die ſich als Lüge von
ihrem Boden wegſchob, leben zu können wähnte: Lokale.
mechaniſche Wahrheit, Früchte des Daſeienden, nahm ihre
Stelle ein, und wird ſie weit weg drängen, als Dünger. In
dieſer Lüge umſtrickt waren auch wir geboren, und auch wir
leiden nach Maß unſerer Geſchichte, die wir im Entſtehn
gleich mitbilden müſſen, und im Maß unſerer Theilnahme
an der Lüge, zu der wir nicht Klarheit und Streitkraft genug
hatten, ſie zu bekämpfen. Mit „Wir“ meine ich: ich und du,
und keiner ausgenommen. Vielleicht der Einſiedler in
Reinerz. Es wundert mich nicht, daß es Menſchen giebt,
die den alten Weltſchaden für unheilbar anſehn, lachen, wenn
ſie nicht weinen müſſen, und zum Gebrauch nehmen, was
ihnen nur irgend ein Narr laſſen will, ſie irgend kriegen
können. Unheilbar iſt er für uns zeitliche Weſen, da er ſo
lange dauert. Iſt die Harmonie (und der Drang dazu) der
Gedanken eines Menſchen rege und ſtark genug, alles, was
in Auge und Ohr dringt, zu übertönen, ſo lebt er mehr innen,
und hat die Ewigkeit, die beſteht in Unabhängigkeit, und
nicht in Zeitenreihe. Dieſe zwei Welten bewegen dieſe Welt.
Man hat, was man iſt; was man iſt, hat man bekommen.
Frömmer kann man nicht ſein. Leiden thut man alles, denn
man leidet ſich ſelbſt.



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[285/0293] die ſich aber alle geſammt nach einem andern Punkte hinnei- gend bewegen, der ein unſichtbarer iſt, und in deſſen Bahn die Schwankungen in allen Richtungen gerade noch Raum haben. Dies iſt das Schwanken, nach dem du fragſt, keiner hat ganz Schuld, es iſt die alte Geſchichte, die ſich als Lüge von ihrem Boden wegſchob, leben zu können wähnte: Lokale. mechaniſche Wahrheit, Früchte des Daſeienden, nahm ihre Stelle ein, und wird ſie weit weg drängen, als Dünger. In dieſer Lüge umſtrickt waren auch wir geboren, und auch wir leiden nach Maß unſerer Geſchichte, die wir im Entſtehn gleich mitbilden müſſen, und im Maß unſerer Theilnahme an der Lüge, zu der wir nicht Klarheit und Streitkraft genug hatten, ſie zu bekämpfen. Mit „Wir“ meine ich: ich und du, und keiner ausgenommen. Vielleicht der Einſiedler in Reinerz. Es wundert mich nicht, daß es Menſchen giebt, die den alten Weltſchaden für unheilbar anſehn, lachen, wenn ſie nicht weinen müſſen, und zum Gebrauch nehmen, was ihnen nur irgend ein Narr laſſen will, ſie irgend kriegen können. Unheilbar iſt er für uns zeitliche Weſen, da er ſo lange dauert. Iſt die Harmonie (und der Drang dazu) der Gedanken eines Menſchen rege und ſtark genug, alles, was in Auge und Ohr dringt, zu übertönen, ſo lebt er mehr innen, und hat die Ewigkeit, die beſteht in Unabhängigkeit, und nicht in Zeitenreihe. Dieſe zwei Welten bewegen dieſe Welt. Man hat, was man iſt; was man iſt, hat man bekommen. Frömmer kann man nicht ſein. Leiden thut man alles, denn man leidet ſich ſelbſt.

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/293>, abgerufen am 24.11.2024.