Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

lese, viel nach. Und sehe in allem, was Menschen wirklich
mitzubereiten im Stande sind, nur das Eine: daß Weniges
in der Natur gelingt, und sich nach ihrer wahren Absicht aus-
bildet; so auch in des Menschen Natur; Alle sollten selbst-
ständig und selbstdenkend, daher sehend und erfindend, sein,
das ist ihr natürlicher Zustand. Aber der ist so verweset
und verwirrt, daß die, welche naturgemäß sind, Ausnahmen
machen, und Genies sein müssen, oder genannt werden, und
alle Andern in trübem Dasein denen alles auf eine Weile
nachmachen; immer wenn es schon unzeitig ist, also verkehrt.
Das geht auch wieder ganz deutlich aus Goethe's Buch her-
vor; dies nennt man beständig fort die alte und die neue
Zeit: es wäre immer eine neue, wenn man nicht faul, dumm,
albern, dünkelhaft-stolz übertragen wollte: denn in der gan-
zen Weltgeschichte wirkten und sahen nur, die groß, die frisch
wirkten und sahen, und belebt: und die belebten.



An Varnhagen, in Paris.

-- Es war den Sonntag natürlich die Rede von Goethe,
und da erbot sich dann Otterstedt wieder, er wolle hin, und
ihn schaffen; welches ich verbat; er sollte ihn nur wissen las-
sen, wer es war, der ihm in Niederrad nachschrie. Frau von
Schlosser meinte, ich solle nur grade mit Otterstedts zum Kom-
merzienrath -- der ein preußischer ist -- Willemer hinfahren,
und dort die Damen besuchen! Das fehlte mir! -- Das alles

leſe, viel nach. Und ſehe in allem, was Menſchen wirklich
mitzubereiten im Stande ſind, nur das Eine: daß Weniges
in der Natur gelingt, und ſich nach ihrer wahren Abſicht aus-
bildet; ſo auch in des Menſchen Natur; Alle ſollten ſelbſt-
ſtändig und ſelbſtdenkend, daher ſehend und erfindend, ſein,
das iſt ihr natürlicher Zuſtand. Aber der iſt ſo verweſet
und verwirrt, daß die, welche naturgemäß ſind, Ausnahmen
machen, und Genies ſein müſſen, oder genannt werden, und
alle Andern in trübem Daſein denen alles auf eine Weile
nachmachen; immer wenn es ſchon unzeitig iſt, alſo verkehrt.
Das geht auch wieder ganz deutlich aus Goethe’s Buch her-
vor; dies nennt man beſtändig fort die alte und die neue
Zeit: es wäre immer eine neue, wenn man nicht faul, dumm,
albern, dünkelhaft-ſtolz übertragen wollte: denn in der gan-
zen Weltgeſchichte wirkten und ſahen nur, die groß, die friſch
wirkten und ſahen, und belebt: und die belebten.



An Varnhagen, in Paris.

— Es war den Sonntag natürlich die Rede von Goethe,
und da erbot ſich dann Otterſtedt wieder, er wolle hin, und
ihn ſchaffen; welches ich verbat; er ſollte ihn nur wiſſen laſ-
ſen, wer es war, der ihm in Niederrad nachſchrie. Frau von
Schloſſer meinte, ich ſolle nur grade mit Otterſtedts zum Kom-
merzienrath — der ein preußiſcher iſt — Willemer hinfahren,
und dort die Damen beſuchen! Das fehlte mir! — Das alles

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0326" n="318"/>
le&#x017F;e, viel nach. Und &#x017F;ehe in allem, was Men&#x017F;chen wirklich<lb/>
mitzubereiten im Stande &#x017F;ind, nur das Eine: daß Weniges<lb/>
in der Natur gelingt, und &#x017F;ich nach ihrer wahren Ab&#x017F;icht aus-<lb/>
bildet; &#x017F;o auch in des Men&#x017F;chen Natur; <hi rendition="#g">Alle</hi> &#x017F;ollten &#x017F;elb&#x017F;t-<lb/>
&#x017F;tändig und &#x017F;elb&#x017F;tdenkend, daher &#x017F;ehend und erfindend, &#x017F;ein,<lb/>
das i&#x017F;t ihr <hi rendition="#g">natürlicher</hi> Zu&#x017F;tand. Aber der i&#x017F;t &#x017F;o verwe&#x017F;et<lb/>
und verwirrt, daß die, welche naturgemäß &#x017F;ind, Ausnahmen<lb/>
machen, und Genies &#x017F;ein mü&#x017F;&#x017F;en, oder genannt werden, und<lb/>
alle Andern in trübem Da&#x017F;ein denen alles auf eine Weile<lb/>
nachmachen; immer wenn es &#x017F;chon unzeitig i&#x017F;t, al&#x017F;o verkehrt.<lb/>
Das geht auch wieder ganz deutlich aus Goethe&#x2019;s Buch her-<lb/>
vor; dies nennt man <hi rendition="#g">be&#x017F;tändig fort</hi> die alte und die neue<lb/>
Zeit: es wäre immer eine neue, wenn man nicht faul, dumm,<lb/>
albern, dünkelhaft-&#x017F;tolz übertragen wollte: denn in der gan-<lb/>
zen Weltge&#x017F;chichte wirkten und &#x017F;ahen nur, die groß, die fri&#x017F;ch<lb/>
wirkten und &#x017F;ahen, und belebt: und die belebten.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>An Varnhagen, in Paris.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Frankfurt a. M. Mittwoch, den 30. Augu&#x017F;t 1815.</hi> </dateline><lb/>
            <p>&#x2014; Es war den Sonntag natürlich die Rede von Goethe,<lb/>
und da erbot &#x017F;ich dann Otter&#x017F;tedt wieder, <hi rendition="#g">er</hi> wolle hin, und<lb/>
ihn &#x017F;chaffen; welches ich verbat; er &#x017F;ollte ihn nur wi&#x017F;&#x017F;en la&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, wer es war, der ihm in Niederrad nach&#x017F;chrie. Frau von<lb/>
Schlo&#x017F;&#x017F;er meinte, ich &#x017F;olle nur grade mit Otter&#x017F;tedts zum Kom-<lb/>
merzienrath &#x2014; der ein preußi&#x017F;cher i&#x017F;t &#x2014; Willemer hinfahren,<lb/>
und dort die Damen be&#x017F;uchen! Das fehlte mir! &#x2014; Das alles<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[318/0326] leſe, viel nach. Und ſehe in allem, was Menſchen wirklich mitzubereiten im Stande ſind, nur das Eine: daß Weniges in der Natur gelingt, und ſich nach ihrer wahren Abſicht aus- bildet; ſo auch in des Menſchen Natur; Alle ſollten ſelbſt- ſtändig und ſelbſtdenkend, daher ſehend und erfindend, ſein, das iſt ihr natürlicher Zuſtand. Aber der iſt ſo verweſet und verwirrt, daß die, welche naturgemäß ſind, Ausnahmen machen, und Genies ſein müſſen, oder genannt werden, und alle Andern in trübem Daſein denen alles auf eine Weile nachmachen; immer wenn es ſchon unzeitig iſt, alſo verkehrt. Das geht auch wieder ganz deutlich aus Goethe’s Buch her- vor; dies nennt man beſtändig fort die alte und die neue Zeit: es wäre immer eine neue, wenn man nicht faul, dumm, albern, dünkelhaft-ſtolz übertragen wollte: denn in der gan- zen Weltgeſchichte wirkten und ſahen nur, die groß, die friſch wirkten und ſahen, und belebt: und die belebten. An Varnhagen, in Paris. Frankfurt a. M. Mittwoch, den 30. Auguſt 1815. — Es war den Sonntag natürlich die Rede von Goethe, und da erbot ſich dann Otterſtedt wieder, er wolle hin, und ihn ſchaffen; welches ich verbat; er ſollte ihn nur wiſſen laſ- ſen, wer es war, der ihm in Niederrad nachſchrie. Frau von Schloſſer meinte, ich ſolle nur grade mit Otterſtedts zum Kom- merzienrath — der ein preußiſcher iſt — Willemer hinfahren, und dort die Damen beſuchen! Das fehlte mir! — Das alles

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/326
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/326>, abgerufen am 22.11.2024.