nen wir mehr zornig, als wir's sind, oder zu anderer Zeit, als wir's sind; wegwenden thu' ich mich meist davon, zum Unter- suchen mag ich nicht einmal hinsehen, weil ich's doch schon kenne; aber dies Wegwenden, Vergessen, ist der wahre Zorn. Saint-Martin meint sogar: "Das Böse sei in so niedrigen Sphären, daß es nicht mehr zu Gott könne und komme." Dies wäre ein Zorn Gottes, denk' ich. Nie wird man sich ganz abwenden können von den Landsleuten, den Erdnach- barn -- alle Menschen, -- also laß uns sprechen, klagen, schimpfen, klügeln, wenn wir es nöthig haben: dies ist auch ein menschlich Thun und Fortkommen. --
An Friederike Liman, in Berlin.
Frankfurt a. M. Donnerstag, den 15. Februar 1816.
Nicht: auch sie! auch sie! Das Einzige, welches ich gewiß weiß, dessen ich, in allem Leben, in aller Spekulation, gewiß geblieben, gewiß geworden bin, ist, daß mein Gemüth den Freunden, den je ernstgemeinten, den aus dem frischen Jugend- herzen geschöpften Erinnerungen bleibt. Und dies, wenn du mich mit deinem schweren, nicht gelenken Gemüthe kennst, solltest du wissen. Keine abwendende Leidenschaften, zu den größten Verhältnissen, zu zwanzig, Lebensjahre umwindende, in Anspruch genommene, konnten meinen innern Überzeugungs- punkt, das Herz anders stellen. Ich bin, wir sind, wie wir waren, beim Rathhaus, bei der Post, bei der Seehandlung, die selben Kinder. Nie, und von keiner Affektation ange-
II. 25
nen wir mehr zornig, als wir’s ſind, oder zu anderer Zeit, als wir’s ſind; wegwenden thu’ ich mich meiſt davon, zum Unter- ſuchen mag ich nicht einmal hinſehen, weil ich’s doch ſchon kenne; aber dies Wegwenden, Vergeſſen, iſt der wahre Zorn. Saint-Martin meint ſogar: „Das Böſe ſei in ſo niedrigen Sphären, daß es nicht mehr zu Gott könne und komme.“ Dies wäre ein Zorn Gottes, denk’ ich. Nie wird man ſich ganz abwenden können von den Landsleuten, den Erdnach- barn — alle Menſchen, — alſo laß uns ſprechen, klagen, ſchimpfen, klügeln, wenn wir es nöthig haben: dies iſt auch ein menſchlich Thun und Fortkommen. —
An Friederike Liman, in Berlin.
Frankfurt a. M. Donnerstag, den 15. Februar 1816.
Nicht: auch ſie! auch ſie! Das Einzige, welches ich gewiß weiß, deſſen ich, in allem Leben, in aller Spekulation, gewiß geblieben, gewiß geworden bin, iſt, daß mein Gemüth den Freunden, den je ernſtgemeinten, den aus dem friſchen Jugend- herzen geſchöpften Erinnerungen bleibt. Und dies, wenn du mich mit deinem ſchweren, nicht gelenken Gemüthe kennſt, ſollteſt du wiſſen. Keine abwendende Leidenſchaften, zu den größten Verhältniſſen, zu zwanzig, Lebensjahre umwindende, in Anſpruch genommene, konnten meinen innern Überzeugungs- punkt, das Herz anders ſtellen. Ich bin, wir ſind, wie wir waren, beim Rathhaus, bei der Poſt, bei der Seehandlung, die ſelben Kinder. Nie, und von keiner Affektation ange-
II. 25
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nen wir mehr zornig, als wir’s ſind, oder zu anderer Zeit, als
wir’s ſind; wegwenden thu’ ich mich meiſt davon, zum Unter-
ſuchen mag ich nicht einmal hinſehen, weil ich’s doch ſchon
kenne; aber dies Wegwenden, Vergeſſen, iſt der wahre Zorn.
Saint-Martin meint ſogar: „Das Böſe ſei in ſo niedrigen
Sphären, daß es nicht mehr zu Gott könne und komme.“
Dies wäre ein Zorn Gottes, denk’ ich. Nie wird man ſich
ganz abwenden können von den Landsleuten, den Erdnach-
barn — alle Menſchen, — alſo laß uns ſprechen, klagen,
ſchimpfen, klügeln, wenn wir es nöthig haben: dies iſt auch
ein menſchlich Thun und Fortkommen. —
An Friederike Liman, in Berlin.
Frankfurt a. M. Donnerstag, den 15. Februar 1816.
Nicht: auch ſie! auch ſie! Das Einzige, welches ich gewiß
weiß, deſſen ich, in allem Leben, in aller Spekulation, gewiß
geblieben, gewiß geworden bin, iſt, daß mein Gemüth den
Freunden, den je ernſtgemeinten, den aus dem friſchen Jugend-
herzen geſchöpften Erinnerungen bleibt. Und dies, wenn du
mich mit deinem ſchweren, nicht gelenken Gemüthe kennſt,
ſollteſt du wiſſen. Keine abwendende Leidenſchaften, zu den
größten Verhältniſſen, zu zwanzig, Lebensjahre umwindende,
in Anſpruch genommene, konnten meinen innern Überzeugungs-
punkt, das Herz anders ſtellen. Ich bin, wir ſind, wie wir
waren, beim Rathhaus, bei der Poſt, bei der Seehandlung,
die ſelben Kinder. Nie, und von keiner Affektation ange-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/393>, abgerufen am 26.11.2024.
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