Lande wohnen, ein gesunder Wunsch dort zu sein, sei schon gut; gehen können, vortrefflich; nah an schönen Spazirgän- gen zu wohnen, herrlich; und nicht zu appuyiren auf das, was einem fehlt, eine Art Schuldigkeit; und mit Gesundheit, eine leichte Klugheit; und so zu schätzen was man hat, als ob man's verloren habe, ein ordentliches Glück!! Ganz glücklich gehe ich spaziren; ganz glücklich seh' ich einen wei- ten besternten Himmel Abends aus meinen Fenstern; und fühle, mich gesund fühlen fehlte mir am meisten, und daß ich wirk- lich nur Erreichbares und Leichtes bedarf!!!
Mittwoch den 22. Mai.
Gestern wurde ich bei obiger Zeile gestört: und so nach und nach den ganzen Tag am Weiterschreiben verhindert. Seitdem hat die Sterbliche schon unzählige Unannehmlichkei- ten gefühlt, Kontrarietäten erlebt, schlechte Empfindungen durchmachen müssen; ja, heute schon geweint: und das auf meinen Knieen: wie außer mir: und alles dies, nur Kleinig- keiten -- nennt man's -- die mir aber auf's bitterste, und herbste, und unleidlichste, die Sentenz des Geistes vorhalten; und wahr machen, die mein Schicksal bestimmte. Nun nahm ich Ihren Brief, und meinen angefangenen wieder vor mich: und sah, daß es, so lange ich in diesem Gehäuse leben muß, mit mir anders nicht wird: ein paar kluge Sentenzen kommen manchmal zum Vorschein; auffallende, tragisch-possirliche Kla- gen; der mildeste Trost aus gutem Herzen gequollen; aber sonst nichts! Anders wird's mit mir nicht; anders werde ich auch nicht; klüger oder besser, weniger noch als kaum' Be-
Lande wohnen, ein geſunder Wunſch dort zu ſein, ſei ſchon gut; gehen können, vortrefflich; nah an ſchönen Spazirgän- gen zu wohnen, herrlich; und nicht zu appuyiren auf das, was einem fehlt, eine Art Schuldigkeit; und mit Geſundheit, eine leichte Klugheit; und ſo zu ſchätzen was man hat, als ob man’s verloren habe, ein ordentliches Glück!! Ganz glücklich gehe ich ſpaziren; ganz glücklich ſeh’ ich einen wei- ten beſternten Himmel Abends aus meinen Fenſtern; und fühle, mich geſund fühlen fehlte mir am meiſten, und daß ich wirk- lich nur Erreichbares und Leichtes bedarf!!!
Mittwoch den 22. Mai.
Geſtern wurde ich bei obiger Zeile geſtört: und ſo nach und nach den ganzen Tag am Weiterſchreiben verhindert. Seitdem hat die Sterbliche ſchon unzählige Unannehmlichkei- ten gefühlt, Kontrarietäten erlebt, ſchlechte Empfindungen durchmachen müſſen; ja, heute ſchon geweint: und das auf meinen Knieen: wie außer mir: und alles dies, nur Kleinig- keiten — nennt man’s — die mir aber auf’s bitterſte, und herbſte, und unleidlichſte, die Sentenz des Geiſtes vorhalten; und wahr machen, die mein Schickſal beſtimmte. Nun nahm ich Ihren Brief, und meinen angefangenen wieder vor mich: und ſah, daß es, ſo lange ich in dieſem Gehäuſe leben muß, mit mir anders nicht wird: ein paar kluge Sentenzen kommen manchmal zum Vorſchein; auffallende, tragiſch-poſſirliche Kla- gen; der mildeſte Troſt aus gutem Herzen gequollen; aber ſonſt nichts! Anders wird’s mit mir nicht; anders werde ich auch nicht; klüger oder beſſer, weniger noch als kaum’ Be-
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Lande wohnen, ein geſunder Wunſch dort zu ſein, ſei ſchon
gut; gehen können, vortrefflich; nah an ſchönen Spazirgän-
gen zu wohnen, herrlich; und nicht zu appuyiren auf das,
was einem fehlt, eine Art Schuldigkeit; und mit Geſundheit,
eine leichte Klugheit; und ſo zu ſchätzen was man hat, als
ob man’s verloren habe, ein ordentliches Glück!! Ganz
glücklich gehe ich ſpaziren; ganz glücklich ſeh’ ich einen wei-
ten beſternten Himmel Abends aus meinen Fenſtern; und fühle,
mich geſund fühlen fehlte mir am meiſten, und daß ich wirk-
lich nur Erreichbares und Leichtes bedarf!!!
Mittwoch den 22. Mai.
Geſtern wurde ich bei obiger Zeile geſtört: und ſo nach
und nach den ganzen Tag am Weiterſchreiben verhindert.
Seitdem hat die Sterbliche ſchon unzählige Unannehmlichkei-
ten gefühlt, Kontrarietäten erlebt, ſchlechte Empfindungen
durchmachen müſſen; ja, heute ſchon geweint: und das auf
meinen Knieen: wie außer mir: und alles dies, nur Kleinig-
keiten — nennt man’s — die mir aber auf’s bitterſte, und
herbſte, und unleidlichſte, die Sentenz des Geiſtes vorhalten;
und wahr machen, die mein Schickſal beſtimmte. Nun nahm
ich Ihren Brief, und meinen angefangenen wieder vor mich:
und ſah, daß es, ſo lange ich in dieſem Gehäuſe leben muß,
mit mir anders nicht wird: ein paar kluge Sentenzen kommen
manchmal zum Vorſchein; auffallende, tragiſch-poſſirliche Kla-
gen; der mildeſte Troſt aus gutem Herzen gequollen; aber
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/410>, abgerufen am 28.11.2024.
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