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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

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neiden Sie Demüthige! also Doren nicht, ihr Leben bei mir
zuzubringen, und stellen Sie mich nicht so hoch! Ich habe
einige große, oder vielmehr starke Anlagen, und eine unschul-
dige Seele, dies bildet scheinbare Geistestalente, die aber alle
keine glückliche Entwickelung fanden: ich selbst ward ihrer
nicht Herr; sie nur meiner; daher entstand eine Gemüthsrege,
die man lieben muß, wenn man sie findet; die aber den Mei-
sten nur als Geist erscheint, ihnen Forderungen einflößt, die
ich meist geschickt genug zu leisten bin; aber mit andren Mitt-
len, als die jene in Anspruch nehmen; welches mich sehr müde
macht: zum Theil entsprech' ich den Anforderungen nicht; dann
bin ich bitterer Anklage und weit und breit wirkenden Miß-
verhältnissen preisgegeben. Und so schwankt und fließt das
Leben über uns hin; wir manchmal ein wenig von ihm ge-
tragen; eigentlich aber in fremder Fluth: wie es mit dem An-
kommen ist, darüber will ich endlich schweigen; wie für uns ge-
schwiegen ist! So ist's ein wenig mehr, ein wenig weniger,
mit allen Menschen; das lese ich sogar aus allem heraus.
Von den Testamenten anzufangen! aus dem alten und neuen:
aus aller Geschichte: aus allen Behauptungen, Plänen, Vor-
schlägen, Erfindungen, Fiktionen der Bücher: aus allen Dich-
tern
, ihrem Scherz, und Ernst. Es ist ein Witz der Natur,
uns so gefangen zu haben; sonst blieben wir gewiß nicht:
aber unser Wünschen, unser Sehnen ist unser Netz und unsere
Gränze. Das ist keine Kunst! Also klagen wir nur, Golda,
klagen wir, wenn wir nichts thun können und leiden, rein lei-
den; Genuß wird, oder muß uns erst das Sein deutlich ma-
chen: hier kennen wir den Genuß und das Sein nicht: klagen

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neiden Sie Demüthige! alſo Doren nicht, ihr Leben bei mir
zuzubringen, und ſtellen Sie mich nicht ſo hoch! Ich habe
einige große, oder vielmehr ſtarke Anlagen, und eine unſchul-
dige Seele, dies bildet ſcheinbare Geiſtestalente, die aber alle
keine glückliche Entwickelung fanden: ich ſelbſt ward ihrer
nicht Herr; ſie nur meiner; daher entſtand eine Gemüthsrege,
die man lieben muß, wenn man ſie findet; die aber den Mei-
ſten nur als Geiſt erſcheint, ihnen Forderungen einflößt, die
ich meiſt geſchickt genug zu leiſten bin; aber mit andren Mitt-
len, als die jene in Anſpruch nehmen; welches mich ſehr müde
macht: zum Theil entſprech’ ich den Anforderungen nicht; dann
bin ich bitterer Anklage und weit und breit wirkenden Miß-
verhältniſſen preisgegeben. Und ſo ſchwankt und fließt das
Leben über uns hin; wir manchmal ein wenig von ihm ge-
tragen; eigentlich aber in fremder Fluth: wie es mit dem An-
kommen iſt, darüber will ich endlich ſchweigen; wie für uns ge-
ſchwiegen iſt! So iſt’s ein wenig mehr, ein wenig weniger,
mit allen Menſchen; das leſe ich ſogar aus allem heraus.
Von den Teſtamenten anzufangen! aus dem alten und neuen:
aus aller Geſchichte: aus allen Behauptungen, Plänen, Vor-
ſchlägen, Erfindungen, Fiktionen der Bücher: aus allen Dich-
tern
, ihrem Scherz, und Ernſt. Es iſt ein Witz der Natur,
uns ſo gefangen zu haben; ſonſt blieben wir gewiß nicht:
aber unſer Wünſchen, unſer Sehnen iſt unſer Netz und unſere
Gränze. Das iſt keine Kunſt! Alſo klagen wir nur, Golda,
klagen wir, wenn wir nichts thun können und leiden, rein lei-
den; Genuß wird, oder muß uns erſt das Sein deutlich ma-
chen: hier kennen wir den Genuß und das Sein nicht: klagen

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[403/0411] neiden Sie Demüthige! alſo Doren nicht, ihr Leben bei mir zuzubringen, und ſtellen Sie mich nicht ſo hoch! Ich habe einige große, oder vielmehr ſtarke Anlagen, und eine unſchul- dige Seele, dies bildet ſcheinbare Geiſtestalente, die aber alle keine glückliche Entwickelung fanden: ich ſelbſt ward ihrer nicht Herr; ſie nur meiner; daher entſtand eine Gemüthsrege, die man lieben muß, wenn man ſie findet; die aber den Mei- ſten nur als Geiſt erſcheint, ihnen Forderungen einflößt, die ich meiſt geſchickt genug zu leiſten bin; aber mit andren Mitt- len, als die jene in Anſpruch nehmen; welches mich ſehr müde macht: zum Theil entſprech’ ich den Anforderungen nicht; dann bin ich bitterer Anklage und weit und breit wirkenden Miß- verhältniſſen preisgegeben. Und ſo ſchwankt und fließt das Leben über uns hin; wir manchmal ein wenig von ihm ge- tragen; eigentlich aber in fremder Fluth: wie es mit dem An- kommen iſt, darüber will ich endlich ſchweigen; wie für uns ge- ſchwiegen iſt! So iſt’s ein wenig mehr, ein wenig weniger, mit allen Menſchen; das leſe ich ſogar aus allem heraus. Von den Teſtamenten anzufangen! aus dem alten und neuen: aus aller Geſchichte: aus allen Behauptungen, Plänen, Vor- ſchlägen, Erfindungen, Fiktionen der Bücher: aus allen Dich- tern, ihrem Scherz, und Ernſt. Es iſt ein Witz der Natur, uns ſo gefangen zu haben; ſonſt blieben wir gewiß nicht: aber unſer Wünſchen, unſer Sehnen iſt unſer Netz und unſere Gränze. Das iſt keine Kunſt! Alſo klagen wir nur, Golda, klagen wir, wenn wir nichts thun können und leiden, rein lei- den; Genuß wird, oder muß uns erſt das Sein deutlich ma- chen: hier kennen wir den Genuß und das Sein nicht: klagen 26 *

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/411>, abgerufen am 28.11.2024.