Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

"So verdirbt man die Bedienten!" sagte man zu Rahel,
als sie etwas zugestand, was menschlich gut, aber dem stren-
gen Respekt nicht ganz förderlich war. Sie entgegnete la-
chend: "Ich denke doch eigennützig: besser ich verderbe ihn,
als mich!"




An Ernestine G., in Berlin.

Man nennt es Süddeutschland: rauhes, kaltes -- hier
kälter, als in Mannheim -- windiges, trübes Wetter: oft
auch Hagel und Schnee; kalter blendender Sonnenschein;
nichts grüner, als den 6. Februar, als das Grün mit Ge-
walt etwas heraus kam. Die Erde war im Winter, vom
Herbst her, grüner. Dabei Hungersnoth vor der Thür: Theu-
rung, die jeden genirt; solche Noth, daß man gar nichts
anders hört, und es ein jeder hört; man es von einem jeden
hört; im Oberland, einige Meilen von hier, ißt man Brot
aus Baumrinde, und gräbt todte Pferde aus; das Vieh stirbt
den Bauern aus Mangel an Gras und Futter. Man sieht
allen Gräueln entgegen. Kennen Sie meine Furchtsamkeit?!
-- dabei möchte mir vor Mitleidsjammer das Herz springen.
Wenn ich esse, krieg' ich einen Schreck; daß ich es bin, die
ißt, die doch erst vor ein paar Stunden aß!!! -- Das ist
Eins; das Allgemeine; welches aber in alle Lebensfalten
dringt: und einem wahrhaft auch Sorge aufbürdet. Nun
hören Sie meins! -- -- --.


„So verdirbt man die Bedienten!“ ſagte man zu Rahel,
als ſie etwas zugeſtand, was menſchlich gut, aber dem ſtren-
gen Reſpekt nicht ganz förderlich war. Sie entgegnete la-
chend: „Ich denke doch eigennützig: beſſer ich verderbe ihn,
als mich!“




An Erneſtine G., in Berlin.

Man nennt es Süddeutſchland: rauhes, kaltes — hier
kälter, als in Mannheim — windiges, trübes Wetter: oft
auch Hagel und Schnee; kalter blendender Sonnenſchein;
nichts grüner, als den 6. Februar, als das Grün mit Ge-
walt etwas heraus kam. Die Erde war im Winter, vom
Herbſt her, grüner. Dabei Hungersnoth vor der Thür: Theu-
rung, die jeden genirt; ſolche Noth, daß man gar nichts
anders hört, und es ein jeder hört; man es von einem jeden
hört; im Oberland, einige Meilen von hier, ißt man Brot
aus Baumrinde, und gräbt todte Pferde aus; das Vieh ſtirbt
den Bauern aus Mangel an Gras und Futter. Man ſieht
allen Gräueln entgegen. Kennen Sie meine Furchtſamkeit?!
— dabei möchte mir vor Mitleidsjammer das Herz ſpringen.
Wenn ich eſſe, krieg’ ich einen Schreck; daß ich es bin, die
ißt, die doch erſt vor ein paar Stunden aß!!! — Das iſt
Eins; das Allgemeine; welches aber in alle Lebensfalten
dringt: und einem wahrhaft auch Sorge aufbürdet. Nun
hören Sie meins! — — —.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0463" n="455"/>
          <div n="3">
            <p>&#x201E;So verdirbt man die Bedienten!&#x201C; &#x017F;agte man zu Rahel,<lb/>
als &#x017F;ie etwas zuge&#x017F;tand, was men&#x017F;chlich gut, aber dem &#x017F;tren-<lb/>
gen Re&#x017F;pekt nicht ganz förderlich war. Sie entgegnete la-<lb/>
chend: &#x201E;Ich denke doch eigennützig: be&#x017F;&#x017F;er ich verderbe ihn,<lb/>
als mich!&#x201C;</p><lb/>
            <dateline> <hi rendition="#et">Mannheim, 1817.</hi> </dateline>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>An Erne&#x017F;tine G., in Berlin.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Karlsruhe, Dienstag den 29. April 1817.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Man nennt es Süddeut&#x017F;chland: rauhes, kaltes &#x2014; hier<lb/>
kälter, als in Mannheim &#x2014; windiges, trübes Wetter: oft<lb/>
auch Hagel und Schnee; kalter blendender Sonnen&#x017F;chein;<lb/><hi rendition="#g">nichts</hi> grüner, als den 6. Februar, als das Grün mit Ge-<lb/>
walt etwas heraus kam. Die Erde war im Winter, vom<lb/>
Herb&#x017F;t her, grüner. Dabei Hungersnoth vor der Thür: Theu-<lb/>
rung, die <hi rendition="#g">jeden</hi> genirt; &#x017F;olche Noth, daß man <hi rendition="#g">gar</hi> nichts<lb/>
anders hört, und es ein <hi rendition="#g">jeder</hi> hört; man es <hi rendition="#g">von</hi> einem jeden<lb/>
hört; im Oberland, einige Meilen von hier, ißt man Brot<lb/>
aus Baumrinde, und gräbt todte Pferde aus; das Vieh &#x017F;tirbt<lb/>
den Bauern aus Mangel an Gras und Futter. Man &#x017F;ieht<lb/><hi rendition="#g">allen</hi> Gräueln entgegen. Kennen Sie meine Furcht&#x017F;amkeit?!<lb/>
&#x2014; dabei möchte mir vor Mitleidsjammer das Herz &#x017F;pringen.<lb/>
Wenn ich e&#x017F;&#x017F;e, krieg&#x2019; ich einen Schreck; daß ich es bin, die<lb/>
ißt, die doch er&#x017F;t vor ein <hi rendition="#g">paar Stunden aß</hi>!!! &#x2014; Das i&#x017F;t<lb/>
Eins; das <hi rendition="#g">Allgemeine</hi>; welches aber in alle Lebensfalten<lb/>
dringt: und einem wahrhaft <hi rendition="#g">auch Sorge</hi> aufbürdet. Nun<lb/>
hören Sie <hi rendition="#g">meins</hi>! &#x2014; &#x2014; &#x2014;.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[455/0463] „So verdirbt man die Bedienten!“ ſagte man zu Rahel, als ſie etwas zugeſtand, was menſchlich gut, aber dem ſtren- gen Reſpekt nicht ganz förderlich war. Sie entgegnete la- chend: „Ich denke doch eigennützig: beſſer ich verderbe ihn, als mich!“ Mannheim, 1817. An Erneſtine G., in Berlin. Karlsruhe, Dienstag den 29. April 1817. Man nennt es Süddeutſchland: rauhes, kaltes — hier kälter, als in Mannheim — windiges, trübes Wetter: oft auch Hagel und Schnee; kalter blendender Sonnenſchein; nichts grüner, als den 6. Februar, als das Grün mit Ge- walt etwas heraus kam. Die Erde war im Winter, vom Herbſt her, grüner. Dabei Hungersnoth vor der Thür: Theu- rung, die jeden genirt; ſolche Noth, daß man gar nichts anders hört, und es ein jeder hört; man es von einem jeden hört; im Oberland, einige Meilen von hier, ißt man Brot aus Baumrinde, und gräbt todte Pferde aus; das Vieh ſtirbt den Bauern aus Mangel an Gras und Futter. Man ſieht allen Gräueln entgegen. Kennen Sie meine Furchtſamkeit?! — dabei möchte mir vor Mitleidsjammer das Herz ſpringen. Wenn ich eſſe, krieg’ ich einen Schreck; daß ich es bin, die ißt, die doch erſt vor ein paar Stunden aß!!! — Das iſt Eins; das Allgemeine; welches aber in alle Lebensfalten dringt: und einem wahrhaft auch Sorge aufbürdet. Nun hören Sie meins! — — —.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/463
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/463>, abgerufen am 22.11.2024.