Ja, lieber Custine, hier bin ich! Drei Tagereisen von Paris: hier seit gestern acht Tage, meine Schwester Mad. Asser zu besuchen, die ich in vierzehn Jahren nicht gesehen hatte, deren Mann ein Justizbeamter ist, welcher mit der Re- gierung seit vorigem Oktober hier residirt, und den 25. mit ihr und meiner Schwester wieder nach dem Haag soll. In Todesangst reiste ich hierher sie nicht mehr zu finden; vorher konnte ich ihr nicht schreiben, daß ich käme, weil Varnhagen andere Geschäftsreisen mit dieser meiner kombiniren wollte, und ich bis auf den letzten Augenblick nicht wußte, ob und wann ich kommen könnte, und ich wollte meiner armen Schwe- ster keine Gemüthsbewegung und unnöthige Spannung ma- chen. Ich konnte ihr also nur von Koblenz aus schreiben, welchen Brief sie einen Tag vor meiner Ankunft erhielt. Die Freude, die Erschütterung, war groß. Sie ist zehn Jahr jünger als ich, wurde zu achtzehn Jahren aus dem Hause, aus dem Lande entwurzelt, mit ihrem Willen zwar, aber ohne Unterscheidungskunst und Kenntniß von Holland und Deutschland, und der Welt überhaupt: ich war zu Paris, als sie heirathete: und besuchte sie gleich Anno 1. als sie ge- heirathet hatte, in Amsterdam, wo meine Mutter noch von der Hochzeit war, mit der ich nach Hause reiste: ich lernte Holland, und die Familie, den Bräutigam, zugleich kennen. Hier sehe ich nur meine Schwester, sie nur mich. (Ich noch
An Aſtolf Grafen von Cuſtine, in Fervaques.
Brüſſel, den 17. September 1817.
Ja, lieber Cuſtine, hier bin ich! Drei Tagereiſen von Paris: hier ſeit geſtern acht Tage, meine Schweſter Mad. Aſſer zu beſuchen, die ich in vierzehn Jahren nicht geſehen hatte, deren Mann ein Juſtizbeamter iſt, welcher mit der Re- gierung ſeit vorigem Oktober hier reſidirt, und den 25. mit ihr und meiner Schweſter wieder nach dem Haag ſoll. In Todesangſt reiſte ich hierher ſie nicht mehr zu finden; vorher konnte ich ihr nicht ſchreiben, daß ich käme, weil Varnhagen andere Geſchäftsreiſen mit dieſer meiner kombiniren wollte, und ich bis auf den letzten Augenblick nicht wußte, ob und wann ich kommen könnte, und ich wollte meiner armen Schwe- ſter keine Gemüthsbewegung und unnöthige Spannung ma- chen. Ich konnte ihr alſo nur von Koblenz aus ſchreiben, welchen Brief ſie einen Tag vor meiner Ankunft erhielt. Die Freude, die Erſchütterung, war groß. Sie iſt zehn Jahr jünger als ich, wurde zu achtzehn Jahren aus dem Hauſe, aus dem Lande entwurzelt, mit ihrem Willen zwar, aber ohne Unterſcheidungskunſt und Kenntniß von Holland und Deutſchland, und der Welt überhaupt: ich war zu Paris, als ſie heirathete: und beſuchte ſie gleich Anno 1. als ſie ge- heirathet hatte, in Amſterdam, wo meine Mutter noch von der Hochzeit war, mit der ich nach Hauſe reiſte: ich lernte Holland, und die Familie, den Bräutigam, zugleich kennen. Hier ſehe ich nur meine Schweſter, ſie nur mich. (Ich noch
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An Aſtolf Grafen von Cuſtine, in Fervaques.
Brüſſel, den 17. September 1817.
Ja, lieber Cuſtine, hier bin ich! Drei Tagereiſen von
Paris: hier ſeit geſtern acht Tage, meine Schweſter Mad.
Aſſer zu beſuchen, die ich in vierzehn Jahren nicht geſehen
hatte, deren Mann ein Juſtizbeamter iſt, welcher mit der Re-
gierung ſeit vorigem Oktober hier reſidirt, und den 25. mit
ihr und meiner Schweſter wieder nach dem Haag ſoll. In
Todesangſt reiſte ich hierher ſie nicht mehr zu finden; vorher
konnte ich ihr nicht ſchreiben, daß ich käme, weil Varnhagen
andere Geſchäftsreiſen mit dieſer meiner kombiniren wollte,
und ich bis auf den letzten Augenblick nicht wußte, ob und
wann ich kommen könnte, und ich wollte meiner armen Schwe-
ſter keine Gemüthsbewegung und unnöthige Spannung ma-
chen. Ich konnte ihr alſo nur von Koblenz aus ſchreiben,
welchen Brief ſie einen Tag vor meiner Ankunft erhielt. Die
Freude, die Erſchütterung, war groß. Sie iſt zehn Jahr
jünger als ich, wurde zu achtzehn Jahren aus dem Hauſe,
aus dem Lande entwurzelt, mit ihrem Willen zwar, aber
ohne Unterſcheidungskunſt und Kenntniß von Holland und
Deutſchland, und der Welt überhaupt: ich war zu Paris,
als ſie heirathete: und beſuchte ſie gleich Anno 1. als ſie ge-
heirathet hatte, in Amſterdam, wo meine Mutter noch von
der Hochzeit war, mit der ich nach Hauſe reiſte: ich lernte
Holland, und die Familie, den Bräutigam, zugleich kennen.
Hier ſehe ich nur meine Schweſter, ſie nur mich. (Ich noch
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/481>, abgerufen am 22.11.2024.
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