wie man's möchte ist es doch auch nie. Ich sagte mit Be- dacht: vorgiebt zu leben; man würde doch eigentlich gering leben, und für seine eigene Person zufrieden sein; denn wenig schluckt man eigentlich herunter, wenig gehört zu einem be- quemen Lager, warmen Kleid, reiner Behausung. Aber um die Viertelstunden Schein thut man alles; und der Fluch geht so weit, daß er an des Einzelnen Eitelkeit gar nicht allein liegt; es hülfe nichts, sie in uns besiegt zu haben: erließen wir uns den Schein, so würden wir von allen Andern gleich ganz, unter unsre Realität herabgesetzt, und uns nicht mehr zugestanden in dem Kreis zu leben, wo Bildung und alle Eitelkeit zusammen herrschen, leben und weben. Dem allen zu entsagen, heischt einen wahren Heldenmuth, und nicht nur eine Abnegation von Eitelkeit, Scheinenwollen und Wett- drängen! So macht man alle Laster mit, ohne lasterhaft zu sein: wie arme Kranke in Pestluft: sie waren gesund; aber Heilmittel sind sie nicht! Ich fände unsern Menschenzustand alle Tage elender, wenn ich nicht bis auf den tiefsten Grund desselben längst gekommen wäre, und auch schon oft vermeint hätte alle Variationen darüber erschöpft zu haben: die aber gehen in's Unendliche! Das ist unser Unendliches. So un- verhofft es aber ist, daß, anstatt Sie nun zu einer bestimmten Zeit zu mir kommen sollten, grad diese längst vergrabene Krüm- mung ausbricht; eben so kann eine Hülfe kommen; oder eine Veränderung, die ihr Gutes hat. Das glaub' ich fest. --
-- Dies alles sind nur die Notizen, die mir am schnell- sten einfallen wollen. Hier wird man jetzt lebenslänglich en- gagirt: und Weixelbaums sind jetzt ein solches sehr vortheil-
wie man’s möchte iſt es doch auch nie. Ich ſagte mit Be- dacht: vorgiebt zu leben; man würde doch eigentlich gering leben, und für ſeine eigene Perſon zufrieden ſein; denn wenig ſchluckt man eigentlich herunter, wenig gehört zu einem be- quemen Lager, warmen Kleid, reiner Behauſung. Aber um die Viertelſtunden Schein thut man alles; und der Fluch geht ſo weit, daß er an des Einzelnen Eitelkeit gar nicht allein liegt; es hülfe nichts, ſie in uns beſiegt zu haben: erließen wir uns den Schein, ſo würden wir von allen Andern gleich ganz, unter unſre Realität herabgeſetzt, und uns nicht mehr zugeſtanden in dem Kreis zu leben, wo Bildung und alle Eitelkeit zuſammen herrſchen, leben und weben. Dem allen zu entſagen, heiſcht einen wahren Heldenmuth, und nicht nur eine Abnegation von Eitelkeit, Scheinenwollen und Wett- drängen! So macht man alle Laſter mit, ohne laſterhaft zu ſein: wie arme Kranke in Peſtluft: ſie waren geſund; aber Heilmittel ſind ſie nicht! Ich fände unſern Menſchenzuſtand alle Tage elender, wenn ich nicht bis auf den tiefſten Grund deſſelben längſt gekommen wäre, und auch ſchon oft vermeint hätte alle Variationen darüber erſchöpft zu haben: die aber gehen in’s Unendliche! Das iſt unſer Unendliches. So un- verhofft es aber iſt, daß, anſtatt Sie nun zu einer beſtimmten Zeit zu mir kommen ſollten, grad dieſe längſt vergrabene Krüm- mung ausbricht; eben ſo kann eine Hülfe kommen; oder eine Veränderung, die ihr Gutes hat. Das glaub’ ich feſt. —
— Dies alles ſind nur die Notizen, die mir am ſchnell- ſten einfallen wollen. Hier wird man jetzt lebenslänglich en- gagirt: und Weixelbaums ſind jetzt ein ſolches ſehr vortheil-
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wie man’s möchte iſt es doch auch nie. Ich ſagte mit Be-
dacht: vorgiebt zu leben; man würde doch eigentlich gering
leben, und für ſeine eigene Perſon zufrieden ſein; denn wenig
ſchluckt man eigentlich herunter, wenig gehört zu einem be-
quemen Lager, warmen Kleid, reiner Behauſung. Aber um
die Viertelſtunden Schein thut man alles; und der Fluch geht
ſo weit, daß er an des Einzelnen Eitelkeit gar nicht allein
liegt; es hülfe nichts, ſie in uns beſiegt zu haben: erließen
wir uns den Schein, ſo würden wir von allen Andern gleich
ganz, unter unſre Realität herabgeſetzt, und uns nicht mehr
zugeſtanden in dem Kreis zu leben, wo Bildung und alle
Eitelkeit zuſammen herrſchen, leben und weben. Dem allen
zu entſagen, heiſcht einen wahren Heldenmuth, und nicht nur
eine Abnegation von Eitelkeit, Scheinenwollen und Wett-
drängen! So macht man alle Laſter mit, ohne laſterhaft zu
ſein: wie arme Kranke in Peſtluft: ſie waren geſund; aber
Heilmittel ſind ſie nicht! Ich fände unſern Menſchenzuſtand
alle Tage elender, wenn ich nicht bis auf den tiefſten Grund
deſſelben längſt gekommen wäre, und auch ſchon oft vermeint
hätte alle Variationen darüber erſchöpft zu haben: die aber
gehen in’s Unendliche! Das iſt unſer Unendliches. So un-
verhofft es aber iſt, daß, anſtatt Sie nun zu einer beſtimmten
Zeit zu mir kommen ſollten, grad dieſe längſt vergrabene Krüm-
mung ausbricht; eben ſo kann eine Hülfe kommen; oder eine
Veränderung, die ihr Gutes hat. Das glaub’ ich feſt. —
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ſten einfallen wollen. Hier wird man jetzt lebenslänglich en-
gagirt: und Weixelbaums ſind jetzt ein ſolches ſehr vortheil-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/522>, abgerufen am 22.11.2024.
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