Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

zel gesprochen. Nichts mehr von Deutschland! Sie werden
alles besser wissen. -- Gott schütze Sie! Ihre treue

Fr. Varnhagen.

Millionen Grüße an Frau von Schlegel! Ihr kleiner
Hof am Hause charmirt mich. Mit günstiger Stimmung ant-
worte ich ihr. Addio! --




Es wird eine Zeit kommen, wo Nationalstolz *) eben so
angesehen werden wird, wie Eigenliebe und andere Eitelkeit;
und Krieg wie Schlägerei. Der jetzige Zustand widerspricht
unserer Religion. Um diesen Widerspruch nicht einzugestehen,
werden die entsetzlichen, langweiligen Lügen gesagt, gedruckt
und dramatisirt.

Geschichte ist in närrischen Händen sehr schädlich, und
ein Grundirrthum über sie in Umlauf; man hört überall den
höchsten fast bis zu den niedrigsten Ständen empfehlen, sie
möchten die Geschichte fragen und die studiren. Wer ist denn
vermögend, Geschichte zu schreiben oder zu lesen? Doch nur
solche, die sie als Gegenwart verstehen! Nur diese vermögen
das Vergangene zu beleben, und es sich gleichsam in Gegen-
wärtiges zu übersetzen. Daher ist das Wort von Friedrich
Schlegel: "Der Historiker ist ein rückwärtsgekehrter Prophet,"
so sehr richtig; darum Goethe ewig und stets von neuem so

*) Dieses ist an einem bedeutenden Orte, im großbritannischen Parla-
mente, schon wahr geworden. Sitzung des Unterhauses vom 23. Fe-
bruar 1830.

zel geſprochen. Nichts mehr von Deutſchland! Sie werden
alles beſſer wiſſen. — Gott ſchütze Sie! Ihre treue

Fr. Varnhagen.

Millionen Grüße an Frau von Schlegel! Ihr kleiner
Hof am Hauſe charmirt mich. Mit günſtiger Stimmung ant-
worte ich ihr. Addio! —




Es wird eine Zeit kommen, wo Nationalſtolz *) eben ſo
angeſehen werden wird, wie Eigenliebe und andere Eitelkeit;
und Krieg wie Schlägerei. Der jetzige Zuſtand widerſpricht
unſerer Religion. Um dieſen Widerſpruch nicht einzugeſtehen,
werden die entſetzlichen, langweiligen Lügen geſagt, gedruckt
und dramatiſirt.

Geſchichte iſt in närriſchen Händen ſehr ſchädlich, und
ein Grundirrthum über ſie in Umlauf; man hört überall den
höchſten faſt bis zu den niedrigſten Ständen empfehlen, ſie
möchten die Geſchichte fragen und die ſtudiren. Wer iſt denn
vermögend, Geſchichte zu ſchreiben oder zu leſen? Doch nur
ſolche, die ſie als Gegenwart verſtehen! Nur dieſe vermögen
das Vergangene zu beleben, und es ſich gleichſam in Gegen-
wärtiges zu überſetzen. Daher iſt das Wort von Friedrich
Schlegel: „Der Hiſtoriker iſt ein rückwärtsgekehrter Prophet,“
ſo ſehr richtig; darum Goethe ewig und ſtets von neuem ſo

*) Dieſes iſt an einem bedeutenden Orte, im großbritanniſchen Parla-
mente, ſchon wahr geworden. Sitzung des Unterhauſes vom 23. Fe-
bruar 1830.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0607" n="599"/>
zel ge&#x017F;prochen. Nichts mehr von Deut&#x017F;chland! Sie werden<lb/>
alles be&#x017F;&#x017F;er wi&#x017F;&#x017F;en. &#x2014; Gott &#x017F;chütze Sie! Ihre treue</p><lb/>
            <closer>
              <salute> <hi rendition="#et">Fr. Varnhagen.</hi> </salute>
            </closer><lb/>
            <postscript>
              <p>Millionen Grüße an Frau von Schlegel! Ihr kleiner<lb/>
Hof am Hau&#x017F;e charmirt mich. Mit gün&#x017F;tiger Stimmung ant-<lb/>
worte ich ihr. <hi rendition="#aq">Addio</hi>! &#x2014;</p>
            </postscript>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, den 3. November 1819.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Es wird eine Zeit kommen, wo National&#x017F;tolz <note place="foot" n="*)">Die&#x017F;es i&#x017F;t an einem bedeutenden Orte, im großbritanni&#x017F;chen Parla-<lb/>
mente, &#x017F;chon wahr geworden. Sitzung des Unterhau&#x017F;es vom 23. Fe-<lb/>
bruar 1830.</note> eben &#x017F;o<lb/>
ange&#x017F;ehen werden wird, wie Eigenliebe und andere Eitelkeit;<lb/>
und Krieg wie Schlägerei. Der jetzige Zu&#x017F;tand wider&#x017F;pricht<lb/>
un&#x017F;erer Religion. Um die&#x017F;en Wider&#x017F;pruch nicht einzuge&#x017F;tehen,<lb/>
werden die ent&#x017F;etzlichen, langweiligen Lügen ge&#x017F;agt, gedruckt<lb/>
und dramati&#x017F;irt.</p><lb/>
            <p>Ge&#x017F;chichte i&#x017F;t in närri&#x017F;chen Händen &#x017F;ehr &#x017F;chädlich, und<lb/>
ein Grundirrthum über &#x017F;ie in Umlauf; man hört überall den<lb/>
höch&#x017F;ten fa&#x017F;t bis zu den niedrig&#x017F;ten Ständen empfehlen, &#x017F;ie<lb/>
möchten die Ge&#x017F;chichte fragen und die &#x017F;tudiren. Wer i&#x017F;t denn<lb/>
vermögend, Ge&#x017F;chichte zu &#x017F;chreiben oder zu le&#x017F;en? Doch nur<lb/>
&#x017F;olche, die &#x017F;ie als Gegenwart ver&#x017F;tehen! Nur die&#x017F;e vermögen<lb/>
das Vergangene zu beleben, und es &#x017F;ich gleich&#x017F;am in Gegen-<lb/>
wärtiges zu über&#x017F;etzen. Daher i&#x017F;t das Wort von Friedrich<lb/>
Schlegel: &#x201E;Der Hi&#x017F;toriker i&#x017F;t ein rückwärtsgekehrter Prophet,&#x201C;<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ehr richtig; darum Goethe ewig und &#x017F;tets von neuem &#x017F;o<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[599/0607] zel geſprochen. Nichts mehr von Deutſchland! Sie werden alles beſſer wiſſen. — Gott ſchütze Sie! Ihre treue Fr. Varnhagen. Millionen Grüße an Frau von Schlegel! Ihr kleiner Hof am Hauſe charmirt mich. Mit günſtiger Stimmung ant- worte ich ihr. Addio! — Berlin, den 3. November 1819. Es wird eine Zeit kommen, wo Nationalſtolz *) eben ſo angeſehen werden wird, wie Eigenliebe und andere Eitelkeit; und Krieg wie Schlägerei. Der jetzige Zuſtand widerſpricht unſerer Religion. Um dieſen Widerſpruch nicht einzugeſtehen, werden die entſetzlichen, langweiligen Lügen geſagt, gedruckt und dramatiſirt. Geſchichte iſt in närriſchen Händen ſehr ſchädlich, und ein Grundirrthum über ſie in Umlauf; man hört überall den höchſten faſt bis zu den niedrigſten Ständen empfehlen, ſie möchten die Geſchichte fragen und die ſtudiren. Wer iſt denn vermögend, Geſchichte zu ſchreiben oder zu leſen? Doch nur ſolche, die ſie als Gegenwart verſtehen! Nur dieſe vermögen das Vergangene zu beleben, und es ſich gleichſam in Gegen- wärtiges zu überſetzen. Daher iſt das Wort von Friedrich Schlegel: „Der Hiſtoriker iſt ein rückwärtsgekehrter Prophet,“ ſo ſehr richtig; darum Goethe ewig und ſtets von neuem ſo *) Dieſes iſt an einem bedeutenden Orte, im großbritanniſchen Parla- mente, ſchon wahr geworden. Sitzung des Unterhauſes vom 23. Fe- bruar 1830.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/607
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 599. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/607>, abgerufen am 27.11.2024.