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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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und hat wohl, als für Theater, jetzt scheinbar großen Schutz
von oben: braucht ihn aber um fortzuleben nicht mehr.




Wenn Saint-Martin sagt, die Seligkeit werde darin
bestehen, daß wir jeden Augenblick etwas Neues erfahren wer-
den: so glaube ich nicht, daß ihn viele Leute verstehn. Denn
nicht Viele wissen, daß wir nichts Absolutes kennen, und unsre
ganze Thätigkeit nur Variazionen auf ein und dasselbe Thema
sind. Wenn wir also in jedem Augenblick Ursachen erfahren
könnten, wäre unser Glück wirklich unendlich, weil es sich
immer neu steigerte; und in Erneuung unsers Selbst. Der
brillanteste Gedanke in unserm Dunkel.




Man darf den Menschen wie den Fürsten vorschmeichlen,
wie sie sein sollten; aber nicht wie sie zu sein wähnen, noch
ihrem Wahn von dem, was sein soll. Wer diesen Unterschied
einmal kennt, wird schon wissen, welches Schmeichlen niedrig
und falsch ist, und den Namen als Ekelnamen zu tragen hat:
da Schmeichlen an sich eine liebliche Sache ist.



Es muß ein jeder überschätzt werden, sonst wird er gar
nicht geschätzt: da das Schätzenswerthe von Menschen und
Natur geheim gehalten wird; wie auch die größten Opfer
nur von dem gewußt werden, der sie bringt: und sonst auch
keine sind.



und hat wohl, als für Theater, jetzt ſcheinbar großen Schutz
von oben: braucht ihn aber um fortzuleben nicht mehr.




Wenn Saint-Martin ſagt, die Seligkeit werde darin
beſtehen, daß wir jeden Augenblick etwas Neues erfahren wer-
den: ſo glaube ich nicht, daß ihn viele Leute verſtehn. Denn
nicht Viele wiſſen, daß wir nichts Abſolutes kennen, und unſre
ganze Thätigkeit nur Variazionen auf ein und daſſelbe Thema
ſind. Wenn wir alſo in jedem Augenblick Urſachen erfahren
könnten, wäre unſer Glück wirklich unendlich, weil es ſich
immer neu ſteigerte; und in Erneuung unſers Selbſt. Der
brillanteſte Gedanke in unſerm Dunkel.




Man darf den Menſchen wie den Fürſten vorſchmeichlen,
wie ſie ſein ſollten; aber nicht wie ſie zu ſein wähnen, noch
ihrem Wahn von dem, was ſein ſoll. Wer dieſen Unterſchied
einmal kennt, wird ſchon wiſſen, welches Schmeichlen niedrig
und falſch iſt, und den Namen als Ekelnamen zu tragen hat:
da Schmeichlen an ſich eine liebliche Sache iſt.



Es muß ein jeder überſchätzt werden, ſonſt wird er gar
nicht geſchätzt: da das Schätzenswerthe von Menſchen und
Natur geheim gehalten wird; wie auch die größten Opfer
nur von dem gewußt werden, der ſie bringt: und ſonſt auch
keine ſind.



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[114/0122] und hat wohl, als für Theater, jetzt ſcheinbar großen Schutz von oben: braucht ihn aber um fortzuleben nicht mehr. Auguſt 1823. Wenn Saint-Martin ſagt, die Seligkeit werde darin beſtehen, daß wir jeden Augenblick etwas Neues erfahren wer- den: ſo glaube ich nicht, daß ihn viele Leute verſtehn. Denn nicht Viele wiſſen, daß wir nichts Abſolutes kennen, und unſre ganze Thätigkeit nur Variazionen auf ein und daſſelbe Thema ſind. Wenn wir alſo in jedem Augenblick Urſachen erfahren könnten, wäre unſer Glück wirklich unendlich, weil es ſich immer neu ſteigerte; und in Erneuung unſers Selbſt. Der brillanteſte Gedanke in unſerm Dunkel. Dienstag, den 19. Auguſt 1823. Man darf den Menſchen wie den Fürſten vorſchmeichlen, wie ſie ſein ſollten; aber nicht wie ſie zu ſein wähnen, noch ihrem Wahn von dem, was ſein ſoll. Wer dieſen Unterſchied einmal kennt, wird ſchon wiſſen, welches Schmeichlen niedrig und falſch iſt, und den Namen als Ekelnamen zu tragen hat: da Schmeichlen an ſich eine liebliche Sache iſt. Es muß ein jeder überſchätzt werden, ſonſt wird er gar nicht geſchätzt: da das Schätzenswerthe von Menſchen und Natur geheim gehalten wird; wie auch die größten Opfer nur von dem gewußt werden, der ſie bringt: und ſonſt auch keine ſind.

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/122>, abgerufen am 28.11.2024.