zu bittrer Geschmack ist eine wahre Kränkung; lange und zu süß, ein beinah geistloser nicht zu ertragender Affekt, eine Art gedankenloses Wohlbefinden durch die Zunge. Sauer bringt zu Nachdenken; schreckt es auf. Salz hat man schon lange zu Geist vergleichen; und es belebt auch, macht umsich- tig, plötzlich. Die Mischung dieser viere bringt alle Ge- schmäcke hervor; sie ist purer Witz. Mir kommt es vor, jeder Geschmack, das zu Schmeckende, ist bedingt durch die Gestalt und Proportion der Theilchen überhaupt, welche die Mate- rien von sich lassen: und man wird Geschmäcke und Töne auszählen und mahlen können, und immer mehr nachspüren können, wie Gemüth und Geist in letzter Thätigkeit nur eine und dieselbe That ausüben kann und ausübt; und daß Men- schen überhaupt nur auf zwei Weisen affizirt werden können. Wir werden finden, daß der ganze Witz, wie im Kleinen, so auch auf's Größte angesehen, nur ein Behelf ist. Dumme Leute sollen aber doch wissen, daß er die größte Erdenmitgift ist; und daß, wenn sie keinen haben, ihnen ein unendlich Gro- ßes fehlt: nämlich die Handhabe zu dem Unendlichen; die er in unserer Beschränktheit darstellt. --
Den 10. August 1823.
Kunst ist: das mit Talent darstellen, was sein könnte, unserer besseren Einsicht nach. Also eigentlich gutes Natur- gefühl; und Sinn für Wahrheit, in der Ausübung. Dies wird, wie geheime Kraft in Pflanzen etc., immer walten, hervorbre- chen, und auch herrschen; heißt, verwandten Sinn finden, und erregen. Dieser ist in der Masse der Leute zu sehr verbreitet,
III. 8
zu bittrer Geſchmack iſt eine wahre Kränkung; lange und zu ſüß, ein beinah geiſtloſer nicht zu ertragender Affekt, eine Art gedankenloſes Wohlbefinden durch die Zunge. Sauer bringt zu Nachdenken; ſchreckt es auf. Salz hat man ſchon lange zu Geiſt vergleichen; und es belebt auch, macht umſich- tig, plötzlich. Die Miſchung dieſer viere bringt alle Ge- ſchmäcke hervor; ſie iſt purer Witz. Mir kommt es vor, jeder Geſchmack, das zu Schmeckende, iſt bedingt durch die Geſtalt und Proportion der Theilchen überhaupt, welche die Mate- rien von ſich laſſen: und man wird Geſchmäcke und Töne auszählen und mahlen können, und immer mehr nachſpüren können, wie Gemüth und Geiſt in letzter Thätigkeit nur eine und dieſelbe That ausüben kann und ausübt; und daß Men- ſchen überhaupt nur auf zwei Weiſen affizirt werden können. Wir werden finden, daß der ganze Witz, wie im Kleinen, ſo auch auf’s Größte angeſehen, nur ein Behelf iſt. Dumme Leute ſollen aber doch wiſſen, daß er die größte Erdenmitgift iſt; und daß, wenn ſie keinen haben, ihnen ein unendlich Gro- ßes fehlt: nämlich die Handhabe zu dem Unendlichen; die er in unſerer Beſchränktheit darſtellt. —
Den 10. Auguſt 1823.
Kunſt iſt: das mit Talent darſtellen, was ſein könnte, unſerer beſſeren Einſicht nach. Alſo eigentlich gutes Natur- gefühl; und Sinn für Wahrheit, in der Ausübung. Dies wird, wie geheime Kraft in Pflanzen ꝛc., immer walten, hervorbre- chen, und auch herrſchen; heißt, verwandten Sinn finden, und erregen. Dieſer iſt in der Maſſe der Leute zu ſehr verbreitet,
III. 8
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0121"n="113"/>
zu bittrer Geſchmack iſt eine wahre Kränkung; lange und<lb/>
zu ſüß, ein beinah geiſtloſer nicht zu ertragender Affekt, eine<lb/>
Art gedankenloſes Wohlbefinden durch die Zunge. Sauer<lb/>
bringt zu Nachdenken; ſchreckt es auf. Salz hat man ſchon<lb/>
lange zu Geiſt vergleichen; und es belebt auch, macht umſich-<lb/>
tig, plötzlich. Die Miſchung dieſer viere bringt alle Ge-<lb/>ſchmäcke hervor; ſie iſt purer Witz. Mir kommt es vor, jeder<lb/>
Geſchmack, das zu Schmeckende, iſt bedingt durch die Geſtalt<lb/>
und Proportion der Theilchen überhaupt, welche die Mate-<lb/>
rien von ſich laſſen: und man wird Geſchmäcke und Töne<lb/>
auszählen und mahlen können, und immer mehr nachſpüren<lb/>
können, wie Gemüth und Geiſt in letzter Thätigkeit nur eine<lb/>
und dieſelbe That ausüben kann und ausübt; und daß Men-<lb/>ſchen überhaupt nur auf zwei Weiſen affizirt werden können.<lb/>
Wir werden finden, daß der ganze Witz, wie im Kleinen, ſo<lb/>
auch auf’s Größte angeſehen, nur ein Behelf iſt. Dumme<lb/>
Leute ſollen aber doch wiſſen, daß er die größte Erdenmitgift<lb/>
iſt; und daß, wenn ſie keinen haben, ihnen ein unendlich Gro-<lb/>
ßes fehlt: nämlich die Handhabe zu dem Unendlichen; die er<lb/>
in unſerer Beſchränktheit darſtellt. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Den 10. Auguſt 1823.</hi></dateline><lb/><p>Kunſt iſt: das mit Talent darſtellen, was ſein könnte,<lb/>
unſerer beſſeren Einſicht nach. Alſo eigentlich gutes Natur-<lb/>
gefühl; und Sinn für Wahrheit, in der Ausübung. Dies wird,<lb/>
wie geheime Kraft in Pflanzen ꝛc., immer walten, hervorbre-<lb/>
chen, und auch herrſchen; heißt, verwandten Sinn finden, und<lb/>
erregen. Dieſer iſt in der Maſſe der Leute zu ſehr verbreitet,<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">III.</hi> 8</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[113/0121]
zu bittrer Geſchmack iſt eine wahre Kränkung; lange und
zu ſüß, ein beinah geiſtloſer nicht zu ertragender Affekt, eine
Art gedankenloſes Wohlbefinden durch die Zunge. Sauer
bringt zu Nachdenken; ſchreckt es auf. Salz hat man ſchon
lange zu Geiſt vergleichen; und es belebt auch, macht umſich-
tig, plötzlich. Die Miſchung dieſer viere bringt alle Ge-
ſchmäcke hervor; ſie iſt purer Witz. Mir kommt es vor, jeder
Geſchmack, das zu Schmeckende, iſt bedingt durch die Geſtalt
und Proportion der Theilchen überhaupt, welche die Mate-
rien von ſich laſſen: und man wird Geſchmäcke und Töne
auszählen und mahlen können, und immer mehr nachſpüren
können, wie Gemüth und Geiſt in letzter Thätigkeit nur eine
und dieſelbe That ausüben kann und ausübt; und daß Men-
ſchen überhaupt nur auf zwei Weiſen affizirt werden können.
Wir werden finden, daß der ganze Witz, wie im Kleinen, ſo
auch auf’s Größte angeſehen, nur ein Behelf iſt. Dumme
Leute ſollen aber doch wiſſen, daß er die größte Erdenmitgift
iſt; und daß, wenn ſie keinen haben, ihnen ein unendlich Gro-
ßes fehlt: nämlich die Handhabe zu dem Unendlichen; die er
in unſerer Beſchränktheit darſtellt. —
Den 10. Auguſt 1823.
Kunſt iſt: das mit Talent darſtellen, was ſein könnte,
unſerer beſſeren Einſicht nach. Alſo eigentlich gutes Natur-
gefühl; und Sinn für Wahrheit, in der Ausübung. Dies wird,
wie geheime Kraft in Pflanzen ꝛc., immer walten, hervorbre-
chen, und auch herrſchen; heißt, verwandten Sinn finden, und
erregen. Dieſer iſt in der Maſſe der Leute zu ſehr verbreitet,
III. 8
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/121>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.