Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Eitelkeit von ihr, und sie mochte nicht um jeden Preis gelobt
sein: aber sie war zu empfindlich gegen Paris -- dies hielt
sie hoch! -- sie mochte um keinen Preis getadelt sein. Ihre
Moralität, ihre Religiosität, ihre Tugend, ja zuletzt gar, ihre
amour d'une monarchie constitutionnelle, sollte in nichts dem
Tadel ausgesetzt sein. Arme Philosophie! solche reicht nicht
weit. Ich glaube doch, hätte sie sich mehr spekulative Kräfte
gefühlt, sie wäre von solcher Nachgiebigkeit zurückgekommen.
Wer Gründen widerspricht, muß es mit Gründen thun; und
jeder, der denken kann, wird für seine Gedanken doch nicht
ungedachte Aussprüche der Gesellschaft fürchten! Im Gegen-
theil; diese ändert sich allmählig nach den Urtheilsaussprüchen,
welche die zuletzt ausgesprochenen Gründe für sich hatten, und
daher siegten. Fast radotirt Frau von Stael über Rousseau
und man wundert sich dieses Herumfahrens, der Aussprüche,
Behauptungen, und was sie als fest annimmt, nicht sowohl:
als daß da drunter mit von dem Besten zum Vorschein kommt,
und sie öfters auf den reinen Grund untertaucht. Dies allein
machte mich so aufmerksam, so bös, und so gut auf sie. So
beurtheilt sie Rousseau's discours sur l'inegalite des conditions,
sur les dangers des spectacles,
und andre Schriften solcher
Art, immer nur aus dem Standpunkt, was man darüber sa-
gen wird, nie was man mit Gründen dagegen sagen könnte;
kann also Rousseau'n auf gar keinem reinen oder abstrakten
Wege folgen. Sie quält ihren armen schönen Verstand: er
muß ihr immer unwürdige Dienste leisten. Wie sie aber gar
auf die neue Heloise kommt, plumpt sie sich beugend in alle
alte dünkelhafte geheiligte Rohheiten. Ließe sie doch Rous-

Eitelkeit von ihr, und ſie mochte nicht um jeden Preis gelobt
ſein: aber ſie war zu empfindlich gegen Paris — dies hielt
ſie hoch! — ſie mochte um keinen Preis getadelt ſein. Ihre
Moralität, ihre Religioſität, ihre Tugend, ja zuletzt gar, ihre
amour d’une monarchie constitutionnelle, ſollte in nichts dem
Tadel ausgeſetzt ſein. Arme Philoſophie! ſolche reicht nicht
weit. Ich glaube doch, hätte ſie ſich mehr ſpekulative Kräfte
gefühlt, ſie wäre von ſolcher Nachgiebigkeit zurückgekommen.
Wer Gründen widerſpricht, muß es mit Gründen thun; und
jeder, der denken kann, wird für ſeine Gedanken doch nicht
ungedachte Ausſprüche der Geſellſchaft fürchten! Im Gegen-
theil; dieſe ändert ſich allmählig nach den Urtheilsausſprüchen,
welche die zuletzt ausgeſprochenen Gründe für ſich hatten, und
daher ſiegten. Faſt radotirt Frau von Staël über Rouſſeau
und man wundert ſich dieſes Herumfahrens, der Ausſprüche,
Behauptungen, und was ſie als feſt annimmt, nicht ſowohl:
als daß da drunter mit von dem Beſten zum Vorſchein kommt,
und ſie öfters auf den reinen Grund untertaucht. Dies allein
machte mich ſo aufmerkſam, ſo bös, und ſo gut auf ſie. So
beurtheilt ſie Rouſſeau’s discours sur l’inégalité des conditions,
sur les dangers des spectacles,
und andre Schriften ſolcher
Art, immer nur aus dem Standpunkt, was man darüber ſa-
gen wird, nie was man mit Gründen dagegen ſagen könnte;
kann alſo Rouſſeau’n auf gar keinem reinen oder abſtrakten
Wege folgen. Sie quält ihren armen ſchönen Verſtand: er
muß ihr immer unwürdige Dienſte leiſten. Wie ſie aber gar
auf die neue Heloiſe kommt, plumpt ſie ſich beugend in alle
alte dünkelhafte geheiligte Rohheiten. Ließe ſie doch Rouſ-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0017" n="9"/>
Eitelkeit von ihr, und &#x017F;ie mochte nicht um jeden Preis gelobt<lb/>
&#x017F;ein: aber &#x017F;ie war zu empfindlich gegen Paris &#x2014; dies hielt<lb/>
&#x017F;ie hoch! &#x2014; &#x017F;ie mochte um keinen Preis getadelt &#x017F;ein. Ihre<lb/>
Moralität, ihre Religio&#x017F;ität, ihre Tugend, ja zuletzt gar, ihre<lb/><hi rendition="#aq">amour d&#x2019;une monarchie constitutionnelle,</hi> &#x017F;ollte in nichts dem<lb/>
Tadel ausge&#x017F;etzt &#x017F;ein. Arme Philo&#x017F;ophie! &#x017F;olche reicht nicht<lb/>
weit. Ich glaube doch, hätte &#x017F;ie &#x017F;ich mehr &#x017F;pekulative Kräfte<lb/>
gefühlt, &#x017F;ie wäre von &#x017F;olcher Nachgiebigkeit zurückgekommen.<lb/>
Wer Gründen wider&#x017F;pricht, muß es mit Gründen thun; und<lb/>
jeder, der denken kann, wird für &#x017F;eine Gedanken doch nicht<lb/>
ungedachte Aus&#x017F;prüche der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft fürchten! Im Gegen-<lb/>
theil; die&#x017F;e ändert &#x017F;ich allmählig nach den Urtheilsaus&#x017F;prüchen,<lb/>
welche die zuletzt ausge&#x017F;prochenen Gründe für &#x017F;ich hatten, und<lb/>
daher &#x017F;iegten. Fa&#x017F;t radotirt Frau von Sta<hi rendition="#aq">ë</hi>l über Rou&#x017F;&#x017F;eau<lb/>
und man wundert &#x017F;ich die&#x017F;es Herumfahrens, der Aus&#x017F;prüche,<lb/>
Behauptungen, und was &#x017F;ie als fe&#x017F;t annimmt, nicht &#x017F;owohl:<lb/>
als daß da drunter mit von dem Be&#x017F;ten zum Vor&#x017F;chein kommt,<lb/>
und &#x017F;ie öfters auf den reinen Grund untertaucht. Dies allein<lb/>
machte mich &#x017F;o aufmerk&#x017F;am, &#x017F;o bös, und &#x017F;o gut auf &#x017F;ie. So<lb/>
beurtheilt &#x017F;ie Rou&#x017F;&#x017F;eau&#x2019;s <hi rendition="#aq">discours sur l&#x2019;inégalité des conditions,<lb/>
sur les dangers des spectacles,</hi> und andre Schriften &#x017F;olcher<lb/>
Art, immer nur aus dem Standpunkt, was man darüber &#x017F;a-<lb/>
gen wird, nie was man mit Gründen dagegen &#x017F;agen könnte;<lb/>
kann al&#x017F;o Rou&#x017F;&#x017F;eau&#x2019;n auf gar keinem reinen oder ab&#x017F;trakten<lb/>
Wege folgen. Sie quält ihren armen &#x017F;chönen Ver&#x017F;tand: er<lb/>
muß ihr immer unwürdige Dien&#x017F;te lei&#x017F;ten. Wie &#x017F;ie aber gar<lb/>
auf die neue Heloi&#x017F;e kommt, plumpt &#x017F;ie &#x017F;ich beugend in alle<lb/>
alte dünkelhafte geheiligte Rohheiten. Ließe &#x017F;ie doch Rou&#x017F;-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0017] Eitelkeit von ihr, und ſie mochte nicht um jeden Preis gelobt ſein: aber ſie war zu empfindlich gegen Paris — dies hielt ſie hoch! — ſie mochte um keinen Preis getadelt ſein. Ihre Moralität, ihre Religioſität, ihre Tugend, ja zuletzt gar, ihre amour d’une monarchie constitutionnelle, ſollte in nichts dem Tadel ausgeſetzt ſein. Arme Philoſophie! ſolche reicht nicht weit. Ich glaube doch, hätte ſie ſich mehr ſpekulative Kräfte gefühlt, ſie wäre von ſolcher Nachgiebigkeit zurückgekommen. Wer Gründen widerſpricht, muß es mit Gründen thun; und jeder, der denken kann, wird für ſeine Gedanken doch nicht ungedachte Ausſprüche der Geſellſchaft fürchten! Im Gegen- theil; dieſe ändert ſich allmählig nach den Urtheilsausſprüchen, welche die zuletzt ausgeſprochenen Gründe für ſich hatten, und daher ſiegten. Faſt radotirt Frau von Staël über Rouſſeau und man wundert ſich dieſes Herumfahrens, der Ausſprüche, Behauptungen, und was ſie als feſt annimmt, nicht ſowohl: als daß da drunter mit von dem Beſten zum Vorſchein kommt, und ſie öfters auf den reinen Grund untertaucht. Dies allein machte mich ſo aufmerkſam, ſo bös, und ſo gut auf ſie. So beurtheilt ſie Rouſſeau’s discours sur l’inégalité des conditions, sur les dangers des spectacles, und andre Schriften ſolcher Art, immer nur aus dem Standpunkt, was man darüber ſa- gen wird, nie was man mit Gründen dagegen ſagen könnte; kann alſo Rouſſeau’n auf gar keinem reinen oder abſtrakten Wege folgen. Sie quält ihren armen ſchönen Verſtand: er muß ihr immer unwürdige Dienſte leiſten. Wie ſie aber gar auf die neue Heloiſe kommt, plumpt ſie ſich beugend in alle alte dünkelhafte geheiligte Rohheiten. Ließe ſie doch Rouſ-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/17
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/17>, abgerufen am 23.11.2024.