uns und ohne uns zu finden. Wer dagegen streitet, vergißt bloß die Bedingungen dazu: und denkt, ich habe sie auch ver- gessen. Die Bedingungen sind ethische, und auch andere.
Berlin, Mittwoch Vormittag den 2. März 1825.
Also Nordostwind. Im Winter war wärmliches Wetter.
-- Sie kennen mein Leben durch früheres Mitleben. Es kostet mich, de ne vivre -- d'une certaine maniere -- que de privations; wenn auch die Andern meinen, ich hätte nur nicht solchen erhabenen gusto! zum elegant und vor- nehm leben, wie sie, die sich armselig aufspreizen für gewisse Tage, um an den übrigen hinter dem doch nur elenden Schein sich noch armseliger zu verkriechen! -- Wem soll ich es ab- sparen? Nur mir. Almosen, Geschenke, Generositäten, gehen ihren Gang, mit den obliquen Ausgaben! -- les imprevues, les incalculables nenne ich so. -- Aber, all dies ist mir lieber als falsche Aufspannung, und Schulden. Ich habe keine. Also Privation, und Ruhe. Und dafür noch große Dankbar- keit. Für Hoffnungen bin ich schon stumm im Innren. Aus- saat in meinem Alter? (mit meinem Schicksal?) da muß man ärnten! Aber auch ich ärnte. Goethe sagt; und ich weiß lange: "Wer nicht verzweiflen kann, der muß nicht leben!" Ich bin ein Meister im Verzweiflen, und nun leb' ich erst ruhig. Wenn man mir den Tag, die Stunden, die Muße nicht vergiftet, mich, ohne Vergnügen, ohne erfüllte Ei- telkeit, ohne Herzensnahrung, ohne Augenweide, ohne Genuß irgend einer Art zufrieden läßt, so bin ich vergnügt. Mein jetziges Leben ist ein Ausruhen, wenn man mir Ruhe läßt.
uns und ohne uns zu finden. Wer dagegen ſtreitet, vergißt bloß die Bedingungen dazu: und denkt, ich habe ſie auch ver- geſſen. Die Bedingungen ſind ethiſche, und auch andere.
Berlin, Mittwoch Vormittag den 2. März 1825.
Alſo Nordoſtwind. Im Winter war wärmliches Wetter.
— Sie kennen mein Leben durch früheres Mitleben. Es koſtet mich, de ne vivre — d’une certaine manière — que de privations; wenn auch die Andern meinen, ich hätte nur nicht ſolchen erhabenen gusto! zum elegant und vor- nehm leben, wie ſie, die ſich armſelig aufſpreizen für gewiſſe Tage, um an den übrigen hinter dem doch nur elenden Schein ſich noch armſeliger zu verkriechen! — Wem ſoll ich es ab- ſparen? Nur mir. Almoſen, Geſchenke, Generoſitäten, gehen ihren Gang, mit den obliquen Ausgaben! — les imprévues, les incalculables nenne ich ſo. — Aber, all dies iſt mir lieber als falſche Aufſpannung, und Schulden. Ich habe keine. Alſo Privation, und Ruhe. Und dafür noch große Dankbar- keit. Für Hoffnungen bin ich ſchon ſtumm im Innren. Aus- ſaat in meinem Alter? (mit meinem Schickſal?) da muß man ärnten! Aber auch ich ärnte. Goethe ſagt; und ich weiß lange: „Wer nicht verzweiflen kann, der muß nicht leben!“ Ich bin ein Meiſter im Verzweiflen, und nun leb’ ich erſt ruhig. Wenn man mir den Tag, die Stunden, die Muße nicht vergiftet, mich, ohne Vergnügen, ohne erfüllte Ei- telkeit, ohne Herzensnahrung, ohne Augenweide, ohne Genuß irgend einer Art zufrieden läßt, ſo bin ich vergnügt. Mein jetziges Leben iſt ein Ausruhen, wenn man mir Ruhe läßt.
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uns und ohne uns zu finden. Wer dagegen ſtreitet, vergißt
bloß die Bedingungen dazu: und denkt, ich habe ſie auch ver-
geſſen. Die Bedingungen ſind ethiſche, und auch andere.
Berlin, Mittwoch Vormittag den 2. März 1825.
Alſo Nordoſtwind. Im Winter war wärmliches Wetter.
— Sie kennen mein Leben durch früheres Mitleben. Es
koſtet mich, de ne vivre — d’une certaine manière — que
de privations; wenn auch die Andern meinen, ich hätte
nur nicht ſolchen erhabenen gusto! zum elegant und vor-
nehm leben, wie ſie, die ſich armſelig aufſpreizen für gewiſſe
Tage, um an den übrigen hinter dem doch nur elenden Schein
ſich noch armſeliger zu verkriechen! — Wem ſoll ich es ab-
ſparen? Nur mir. Almoſen, Geſchenke, Generoſitäten, gehen
ihren Gang, mit den obliquen Ausgaben! — les imprévues,
les incalculables nenne ich ſo. — Aber, all dies iſt mir lieber
als falſche Aufſpannung, und Schulden. Ich habe keine.
Alſo Privation, und Ruhe. Und dafür noch große Dankbar-
keit. Für Hoffnungen bin ich ſchon ſtumm im Innren. Aus-
ſaat in meinem Alter? (mit meinem Schickſal?) da muß
man ärnten! Aber auch ich ärnte. Goethe ſagt; und ich
weiß lange: „Wer nicht verzweiflen kann, der muß nicht
leben!“ Ich bin ein Meiſter im Verzweiflen, und nun leb’
ich erſt ruhig. Wenn man mir den Tag, die Stunden, die
Muße nicht vergiftet, mich, ohne Vergnügen, ohne erfüllte Ei-
telkeit, ohne Herzensnahrung, ohne Augenweide, ohne Genuß
irgend einer Art zufrieden läßt, ſo bin ich vergnügt. Mein
jetziges Leben iſt ein Ausruhen, wenn man mir Ruhe läßt.
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/194>, abgerufen am 23.11.2024.
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