vor dem Anfange dieses Lebens zurückliegt; da rief Rahel in schwermüthiger Trauer schmerzlich: "Ach, wir sind nur ein Tropfen Bewußtsein! Ich will auch ja so gern wieder zurück in's Meer, will gar nichts besonders sein!"
Den 24. April 1825.
"Freilich bin ich ein Egoist! Ich bin ja ein ego zu ei- nem Ich geschaffen!"
Abscheuliches Bekenntniß! und darauf sind Sie noch stolz?
"Es kommt auf die Auslegung an: darauf, heißt das, was wir verstehn. Je enger Sie Ihr Ich einschließen, je plumper Sie es beschränken, je ungelenker im groben direkten Genuß Sie es lassen, je unausstehlicher wird es den andern Ich's werden, und sich selbst am meisten zur Last (im tiefsten Sinne des Worts): aber allen Ich's mehr einräumen, als dem eignen, ist Verdrehung oder Lüge, wenigstens gegen uns selbst. Haben Sie meine Abscheulichkeit nun besser verstanden?"
Freitag, den 28. April 1825.
Wenn man auf der Straße nach der Vorübergehenden Gesprächen horcht: so wird man sehr selten etwas andres hö- ren, als Klagen; oder Prahlereien. Alle Menschen streben überhaupt nach einem würdigern, angemessenern Dasein: in Wahrheit; dann klagen sie: oder unterdessen in Lüge; dann prahlen sie. Vieles Prahlen entsteht auch aus Mangel an Gerechtigkeit: widerführe uns Gerechtigkeit in Anerkennung aller Art; niemand prahlte; so aber füllt jeder Lücken mit
13 *
vor dem Anfange dieſes Lebens zurückliegt; da rief Rahel in ſchwermüthiger Trauer ſchmerzlich: „Ach, wir ſind nur ein Tropfen Bewußtſein! Ich will auch ja ſo gern wieder zurück in’s Meer, will gar nichts beſonders ſein!“
Den 24. April 1825.
„Freilich bin ich ein Egoiſt! Ich bin ja ein ego zu ei- nem Ich geſchaffen!“
Abſcheuliches Bekenntniß! und darauf ſind Sie noch ſtolz?
„Es kommt auf die Auslegung an: darauf, heißt das, was wir verſtehn. Je enger Sie Ihr Ich einſchließen, je plumper Sie es beſchränken, je ungelenker im groben direkten Genuß Sie es laſſen, je unausſtehlicher wird es den andern Ich’s werden, und ſich ſelbſt am meiſten zur Laſt (im tiefſten Sinne des Worts): aber allen Ich’s mehr einräumen, als dem eignen, iſt Verdrehung oder Lüge, wenigſtens gegen uns ſelbſt. Haben Sie meine Abſcheulichkeit nun beſſer verſtanden?“
Freitag, den 28. April 1825.
Wenn man auf der Straße nach der Vorübergehenden Geſprächen horcht: ſo wird man ſehr ſelten etwas andres hö- ren, als Klagen; oder Prahlereien. Alle Menſchen ſtreben überhaupt nach einem würdigern, angemeſſenern Daſein: in Wahrheit; dann klagen ſie: oder unterdeſſen in Lüge; dann prahlen ſie. Vieles Prahlen entſteht auch aus Mangel an Gerechtigkeit: widerführe uns Gerechtigkeit in Anerkennung aller Art; niemand prahlte; ſo aber füllt jeder Lücken mit
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vor dem Anfange dieſes Lebens zurückliegt; da rief Rahel in
ſchwermüthiger Trauer ſchmerzlich: „Ach, wir ſind nur ein
Tropfen Bewußtſein! Ich will auch ja ſo gern wieder zurück
in’s Meer, will gar nichts beſonders ſein!“
Den 24. April 1825.
„Freilich bin ich ein Egoiſt! Ich bin ja ein ego zu ei-
nem Ich geſchaffen!“
Abſcheuliches Bekenntniß! und darauf ſind Sie noch ſtolz?
„Es kommt auf die Auslegung an: darauf, heißt das,
was wir verſtehn. Je enger Sie Ihr Ich einſchließen, je
plumper Sie es beſchränken, je ungelenker im groben direkten
Genuß Sie es laſſen, je unausſtehlicher wird es den andern
Ich’s werden, und ſich ſelbſt am meiſten zur Laſt (im tiefſten
Sinne des Worts): aber allen Ich’s mehr einräumen, als
dem eignen, iſt Verdrehung oder Lüge, wenigſtens gegen uns
ſelbſt. Haben Sie meine Abſcheulichkeit nun beſſer verſtanden?“
Freitag, den 28. April 1825.
Wenn man auf der Straße nach der Vorübergehenden
Geſprächen horcht: ſo wird man ſehr ſelten etwas andres hö-
ren, als Klagen; oder Prahlereien. Alle Menſchen ſtreben
überhaupt nach einem würdigern, angemeſſenern Daſein: in
Wahrheit; dann klagen ſie: oder unterdeſſen in Lüge; dann
prahlen ſie. Vieles Prahlen entſteht auch aus Mangel an
Gerechtigkeit: widerführe uns Gerechtigkeit in Anerkennung
aller Art; niemand prahlte; ſo aber füllt jeder Lücken mit
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/203>, abgerufen am 21.11.2024.
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