Geister, weil er eine unserer vornehmsten Seelen ist, und daher sein schöner Geist frei. --
Morgens 5 Uhr, den 8. Oktober 1825.
Alter ist immer ungerecht gegen Jugend; weil Alter wohl wissen kann, wie Jugend zu Muthe ist, aber Jugend nicht, wie dem Alter; und dies verlangt immer, sie soll das scharfe Tröpfchen Wahrheitsessenz schon destillirt besitzen, ohne je den Baum des Lebens, weder in Laub, noch in Blüthe, oder in Frucht erlebt zu haben. Dümmer und jünger kann kein Wik- kelkind sein! Glauben soll ihm die Jugend: eben das kann sie nicht: seine Falten sind ihr an und für sich keine Be- glaubigung.
Das Alter thut sich auch dadurch kund, daß wir nicht mehr glauben, daß wir etwas bewirken, oder in der Welt ändern können. Diese Einsicht macht unthätig; und wir sind eigentlich viel länger fähig, als wir unsre Fähigkeiten ge- brauchen: es fehlt im Leben durchaus an neuen Einsichten und Entdeckungen: wir machen sie meist alle auf eine unverhält- nißmäßige Weise bis zum dritten Lebensjahre. Die Jugend hat auch darin einen Vorzug, daß sie umgekehrt meint, viel bewirken, und besonders, verändern zu können; und es ist so wahr, daß That nur wirkt, daß auch Jugend wirklich nur die Welt modifizirt; in ihr sind die erworbenen Einsichten der vorigen Generationen niedergelegt und angebaut; die ge- braucht sie frisch, und macht neue Umkehrungen darin. Bis vierzig allenfalls wirkt der Mensch selbst: nachher, wenn's
III. 15
Geiſter, weil er eine unſerer vornehmſten Seelen iſt, und daher ſein ſchöner Geiſt frei. —
Morgens 5 Uhr, den 8. Oktober 1825.
Alter iſt immer ungerecht gegen Jugend; weil Alter wohl wiſſen kann, wie Jugend zu Muthe iſt, aber Jugend nicht, wie dem Alter; und dies verlangt immer, ſie ſoll das ſcharfe Tröpfchen Wahrheitseſſenz ſchon deſtillirt beſitzen, ohne je den Baum des Lebens, weder in Laub, noch in Blüthe, oder in Frucht erlebt zu haben. Dümmer und jünger kann kein Wik- kelkind ſein! Glauben ſoll ihm die Jugend: eben das kann ſie nicht: ſeine Falten ſind ihr an und für ſich keine Be- glaubigung.
Das Alter thut ſich auch dadurch kund, daß wir nicht mehr glauben, daß wir etwas bewirken, oder in der Welt ändern können. Dieſe Einſicht macht unthätig; und wir ſind eigentlich viel länger fähig, als wir unſre Fähigkeiten ge- brauchen: es fehlt im Leben durchaus an neuen Einſichten und Entdeckungen: wir machen ſie meiſt alle auf eine unverhält- nißmäßige Weiſe bis zum dritten Lebensjahre. Die Jugend hat auch darin einen Vorzug, daß ſie umgekehrt meint, viel bewirken, und beſonders, verändern zu können; und es iſt ſo wahr, daß That nur wirkt, daß auch Jugend wirklich nur die Welt modifizirt; in ihr ſind die erworbenen Einſichten der vorigen Generationen niedergelegt und angebaut; die ge- braucht ſie friſch, und macht neue Umkehrungen darin. Bis vierzig allenfalls wirkt der Menſch ſelbſt: nachher, wenn’s
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Geiſter, weil er eine unſerer vornehmſten Seelen iſt, und daher
ſein ſchöner Geiſt frei. —
Morgens 5 Uhr, den 8. Oktober 1825.
Alter iſt immer ungerecht gegen Jugend; weil Alter wohl
wiſſen kann, wie Jugend zu Muthe iſt, aber Jugend nicht,
wie dem Alter; und dies verlangt immer, ſie ſoll das ſcharfe
Tröpfchen Wahrheitseſſenz ſchon deſtillirt beſitzen, ohne je den
Baum des Lebens, weder in Laub, noch in Blüthe, oder in
Frucht erlebt zu haben. Dümmer und jünger kann kein Wik-
kelkind ſein! Glauben ſoll ihm die Jugend: eben das kann
ſie nicht: ſeine Falten ſind ihr an und für ſich keine Be-
glaubigung.
Das Alter thut ſich auch dadurch kund, daß wir nicht
mehr glauben, daß wir etwas bewirken, oder in der Welt
ändern können. Dieſe Einſicht macht unthätig; und wir ſind
eigentlich viel länger fähig, als wir unſre Fähigkeiten ge-
brauchen: es fehlt im Leben durchaus an neuen Einſichten und
Entdeckungen: wir machen ſie meiſt alle auf eine unverhält-
nißmäßige Weiſe bis zum dritten Lebensjahre. Die Jugend
hat auch darin einen Vorzug, daß ſie umgekehrt meint, viel
bewirken, und beſonders, verändern zu können; und es iſt ſo
wahr, daß That nur wirkt, daß auch Jugend wirklich nur die
Welt modifizirt; in ihr ſind die erworbenen Einſichten der
vorigen Generationen niedergelegt und angebaut; die ge-
braucht ſie friſch, und macht neue Umkehrungen darin. Bis
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III. 15
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/233>, abgerufen am 24.11.2024.
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