Enge getrieben sind), daß die Geburt die erste That des Menschen ist. Aber auch diesen mystischen Satz zugegeben: ist sie eine That, so soll sie wie viele andere bekämpft werden, wenn dabei Unrecht und Nachtheil für die Andern ist. --
Den 4. November 1825.
Sonnabend, den 5. November 1825.
Religion kann nur sein: Bedürfniß, Frage; Bedürfniß uns zu reliiren; Antwort giebt Vernunft; die immer nur ent- scheidet, was Thatsache ist; sie ist Eins mit Thatsache: sie nur sieht sie ein. Welche Verwechslung! Nach so vielen Jahr- hunderten Sprachstudiums!
An Wilhelm von Willisen, in Paris.
Freitag Vormittag halb 12. Sonnenschein, aufge- trockneter Boden, Frühlingswetter, dem ein herbstliches Süd-Ost-Nord-West-Wehen doch nicht ganz fehlt; den 11. November 1825. alles dies in Berlin.
Eben weil ich Ihnen gar keine Antwort schuldig bin, ist es möglich, daß ich Ihnen einen Gruß schreibe, -- andre Briefe lass' ich unbeantwortet; mein Bedürfniß nach freiem Handlen, aus wahrhaft mir angehörigen Motiven, nimmt zu: wie soll das werden? da mit jedem Tag Älterwerden die fatalen Bedingungen des geselligen Lebens zunehmen! -- Seit einigen Tagen besitz' ich Ihre beiden Briefe aus Nürn- berg und aus der Schweiz. Sie haben mir überaus wohl- gefallen. Voller Wahrheit: unschuldig gesehen. Die haben
Enge getrieben ſind), daß die Geburt die erſte That des Menſchen iſt. Aber auch dieſen myſtiſchen Satz zugegeben: iſt ſie eine That, ſo ſoll ſie wie viele andere bekämpft werden, wenn dabei Unrecht und Nachtheil für die Andern iſt. —
Den 4. November 1825.
Sonnabend, den 5. November 1825.
Religion kann nur ſein: Bedürfniß, Frage; Bedürfniß uns zu reliiren; Antwort giebt Vernunft; die immer nur ent- ſcheidet, was Thatſache iſt; ſie iſt Eins mit Thatſache: ſie nur ſieht ſie ein. Welche Verwechslung! Nach ſo vielen Jahr- hunderten Sprachſtudiums!
An Wilhelm von Williſen, in Paris.
Freitag Vormittag halb 12. Sonnenſchein, aufge- trockneter Boden, Frühlingswetter, dem ein herbſtliches Süd-Oſt-Nord-Weſt-Wehen doch nicht ganz fehlt; den 11. November 1825. alles dies in Berlin.
Eben weil ich Ihnen gar keine Antwort ſchuldig bin, iſt es möglich, daß ich Ihnen einen Gruß ſchreibe, — andre Briefe laſſ’ ich unbeantwortet; mein Bedürfniß nach freiem Handlen, aus wahrhaft mir angehörigen Motiven, nimmt zu: wie ſoll das werden? da mit jedem Tag Älterwerden die fatalen Bedingungen des geſelligen Lebens zunehmen! — Seit einigen Tagen beſitz’ ich Ihre beiden Briefe aus Nürn- berg und aus der Schweiz. Sie haben mir überaus wohl- gefallen. Voller Wahrheit: unſchuldig geſehen. Die haben
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Enge getrieben ſind), daß die Geburt die erſte That des
Menſchen iſt. Aber auch dieſen myſtiſchen Satz zugegeben:
iſt ſie eine That, ſo ſoll ſie wie viele andere bekämpft werden,
wenn dabei Unrecht und Nachtheil für die Andern iſt. —
Den 4. November 1825.
Sonnabend, den 5. November 1825.
Religion kann nur ſein: Bedürfniß, Frage; Bedürfniß
uns zu reliiren; Antwort giebt Vernunft; die immer nur ent-
ſcheidet, was Thatſache iſt; ſie iſt Eins mit Thatſache: ſie
nur ſieht ſie ein. Welche Verwechslung! Nach ſo vielen Jahr-
hunderten Sprachſtudiums!
An Wilhelm von Williſen, in Paris.
Freitag Vormittag halb 12. Sonnenſchein, aufge-
trockneter Boden, Frühlingswetter, dem ein
herbſtliches Süd-Oſt-Nord-Weſt-Wehen doch
nicht ganz fehlt; den 11. November 1825. alles
dies in Berlin.
Eben weil ich Ihnen gar keine Antwort ſchuldig bin, iſt
es möglich, daß ich Ihnen einen Gruß ſchreibe, — andre
Briefe laſſ’ ich unbeantwortet; mein Bedürfniß nach freiem
Handlen, aus wahrhaft mir angehörigen Motiven, nimmt
zu: wie ſoll das werden? da mit jedem Tag Älterwerden
die fatalen Bedingungen des geſelligen Lebens zunehmen! —
Seit einigen Tagen beſitz’ ich Ihre beiden Briefe aus Nürn-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/237>, abgerufen am 24.11.2024.
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