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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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und unerkannt als Störung bemerkt; und ob ich dies oder
etwas anderes aus mir portofrei herausschreibe, ist ja gleich!
Diesen ganzen Brief schreibe ich auf letzte Veranlassung, näm-
lich weil ich vorgestern bei dem hannöverschen Gesandten Ba-
ron Reden den Hrn. von Wildermeth sah; der mir sagte, er
sei an mich gewiesen wegen Ihrer zwei Briefe: ich sagte ihm
ein wenig, wie ich sie fand. Da sagte er mir, neumodisch
und ganz fertig: ja, er schreibt sehr gut: er sieht alles mit
dem Verstand etc. Meiner stand still; weil er kein Instrument
bei der Hand hatte, einen Irrthum, so breit auf so verschiede-
nen Fußgestellen ausgelegt, zu ergreifen; und sein (Wilder-
meths) Menschenleben dazu gehört hätte, diesen Irrthum da-
von abzulösen, und in alle vier Winde zu schicken. Vorher
hatte ich Ihre Wahrhaftigkeit gepriesen: und mich dagegen
präkavirt, daß es nicht, wie man es nennt, schöne Briefe
seien; nachher konnte ich nichts mehr sagen, als: der Verstand
schadet nicht; und thut dem nicht Schaden, was sonst schon
vorhanden ist. Aber sie haben eigenst den T -- im Leibe
jetzt. Das haben die Neuphilosophen eingebrockt mit ihrer
"sogenannten Vernunft," die sie belächlen, und mit einem
neuen Organ, der Nasenspitze, weit über Vernunft, ihre Re-
ligion riechen anstatt wählen. (Das Bedürfniß dazu ist
ganz etwas anderes.) Hat Einer keinen Verstand, und sie
müssens gestehen: so sagen sie gleich: er hat Phantasie. Mit-
nichten! Es ist mit der Phantasie nicht wie mit Luft. Wo
das Wasser weicht, dringt sie hin. Schreiben sie nur ferner:
ist es für niemand; ist's für mich. Und meinesgleichen: wir
sind ihrer noch viele. Dann schreibe ich Ihnen noch, um Sie

und unerkannt als Störung bemerkt; und ob ich dies oder
etwas anderes aus mir portofrei herausſchreibe, iſt ja gleich!
Dieſen ganzen Brief ſchreibe ich auf letzte Veranlaſſung, näm-
lich weil ich vorgeſtern bei dem hannöverſchen Geſandten Ba-
ron Reden den Hrn. von Wildermeth ſah; der mir ſagte, er
ſei an mich gewieſen wegen Ihrer zwei Briefe: ich ſagte ihm
ein wenig, wie ich ſie fand. Da ſagte er mir, neumodiſch
und ganz fertig: ja, er ſchreibt ſehr gut: er ſieht alles mit
dem Verſtand ꝛc. Meiner ſtand ſtill; weil er kein Inſtrument
bei der Hand hatte, einen Irrthum, ſo breit auf ſo verſchiede-
nen Fußgeſtellen ausgelegt, zu ergreifen; und ſein (Wilder-
meths) Menſchenleben dazu gehört hätte, dieſen Irrthum da-
von abzulöſen, und in alle vier Winde zu ſchicken. Vorher
hatte ich Ihre Wahrhaftigkeit geprieſen: und mich dagegen
präkavirt, daß es nicht, wie man es nennt, ſchöne Briefe
ſeien; nachher konnte ich nichts mehr ſagen, als: der Verſtand
ſchadet nicht; und thut dem nicht Schaden, was ſonſt ſchon
vorhanden iſt. Aber ſie haben eigenſt den T — im Leibe
jetzt. Das haben die Neuphiloſophen eingebrockt mit ihrer
„ſogenannten Vernunft,“ die ſie belächlen, und mit einem
neuen Organ, der Naſenſpitze, weit über Vernunft, ihre Re-
ligion riechen anſtatt wählen. (Das Bedürfniß dazu iſt
ganz etwas anderes.) Hat Einer keinen Verſtand, und ſie
müſſens geſtehen: ſo ſagen ſie gleich: er hat Phantaſie. Mit-
nichten! Es iſt mit der Phantaſie nicht wie mit Luft. Wo
das Waſſer weicht, dringt ſie hin. Schreiben ſie nur ferner:
iſt es für niemand; iſt’s für mich. Und meinesgleichen: wir
ſind ihrer noch viele. Dann ſchreibe ich Ihnen noch, um Sie

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[234/0242] und unerkannt als Störung bemerkt; und ob ich dies oder etwas anderes aus mir portofrei herausſchreibe, iſt ja gleich! Dieſen ganzen Brief ſchreibe ich auf letzte Veranlaſſung, näm- lich weil ich vorgeſtern bei dem hannöverſchen Geſandten Ba- ron Reden den Hrn. von Wildermeth ſah; der mir ſagte, er ſei an mich gewieſen wegen Ihrer zwei Briefe: ich ſagte ihm ein wenig, wie ich ſie fand. Da ſagte er mir, neumodiſch und ganz fertig: ja, er ſchreibt ſehr gut: er ſieht alles mit dem Verſtand ꝛc. Meiner ſtand ſtill; weil er kein Inſtrument bei der Hand hatte, einen Irrthum, ſo breit auf ſo verſchiede- nen Fußgeſtellen ausgelegt, zu ergreifen; und ſein (Wilder- meths) Menſchenleben dazu gehört hätte, dieſen Irrthum da- von abzulöſen, und in alle vier Winde zu ſchicken. Vorher hatte ich Ihre Wahrhaftigkeit geprieſen: und mich dagegen präkavirt, daß es nicht, wie man es nennt, ſchöne Briefe ſeien; nachher konnte ich nichts mehr ſagen, als: der Verſtand ſchadet nicht; und thut dem nicht Schaden, was ſonſt ſchon vorhanden iſt. Aber ſie haben eigenſt den T — im Leibe jetzt. Das haben die Neuphiloſophen eingebrockt mit ihrer „ſogenannten Vernunft,“ die ſie belächlen, und mit einem neuen Organ, der Naſenſpitze, weit über Vernunft, ihre Re- ligion riechen anſtatt wählen. (Das Bedürfniß dazu iſt ganz etwas anderes.) Hat Einer keinen Verſtand, und ſie müſſens geſtehen: ſo ſagen ſie gleich: er hat Phantaſie. Mit- nichten! Es iſt mit der Phantaſie nicht wie mit Luft. Wo das Waſſer weicht, dringt ſie hin. Schreiben ſie nur ferner: iſt es für niemand; iſt’s für mich. Und meinesgleichen: wir ſind ihrer noch viele. Dann ſchreibe ich Ihnen noch, um Sie

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/242>, abgerufen am 21.05.2024.