regsam, daß ich hinaus ging und weinte, und außer mir war. Ich mußte ihn annehmen: er ging nicht; und als ich V. hatte rufen lassen, waren solche abgedroschene Gespräche, die mich krank, und Alleinseins oder Erfrischung benöthigt dem Wahn- sinn nahe brachten. Erst schwieg ich; dann ging ich hinaus, da hört' ich sie doch: dann kam ich wieder hinein; wieder hinaus: da weinte ich. Dann, als er gar nicht ging, sprach ich gewaltthätig und brachte zum Theil meine augenblickliche Lage als Klage im Allgemeinen vor. Marter. Schrecklichster Abend. Ich litt unendlich. --
Nun etwas ganz anders!
Ein in unserm ganzen Dasein gegründeter Mangel, und also sich immer wiederholendes Grundunglück, besteht darin, daß wir nur gleichsam die einzelnen Gaben des Zustandes der Unschuld zu genießen bekommen, den Zustand selbst aber und das köstliche Glück, welches in Reinheit, in Ungestörtheit, be- steht, nicht eher zu fassen vermögen, als bis wir in diesem Zustande nicht mehr sind, und er nur noch für unsere Betrach- tung, aber nicht für unser Wirken vorhanden ist. Daher auch unser Geist immer unschuldig bleibt; da wir aber hier nicht nur als Betrachtung existiren, und jeden Tag auf's neue von allen Lebenselementen berührt und ergriffen werden, und sie wieder behandlen müssen, so erneuert sich das Unbehagen, und die Sehnsucht nach einem angemessenen, reinen Zustand für unsere Seele, auch unaufhörlich wieder. Für dieses eigentlich unerträgliche Verhältniß ist mir ein Trost eingefallen; nämlich ein Mittel, den Zustand der Unschuld wirklich mit Bewußt- sein zu genießen. Mir ist es ausgemacht, daß, wenn wir
III. 2
regſam, daß ich hinaus ging und weinte, und außer mir war. Ich mußte ihn annehmen: er ging nicht; und als ich V. hatte rufen laſſen, waren ſolche abgedroſchene Geſpräche, die mich krank, und Alleinſeins oder Erfriſchung benöthigt dem Wahn- ſinn nahe brachten. Erſt ſchwieg ich; dann ging ich hinaus, da hört’ ich ſie doch: dann kam ich wieder hinein; wieder hinaus: da weinte ich. Dann, als er gar nicht ging, ſprach ich gewaltthätig und brachte zum Theil meine augenblickliche Lage als Klage im Allgemeinen vor. Marter. Schrecklichſter Abend. Ich litt unendlich. —
Nun etwas ganz anders!
Ein in unſerm ganzen Daſein gegründeter Mangel, und alſo ſich immer wiederholendes Grundunglück, beſteht darin, daß wir nur gleichſam die einzelnen Gaben des Zuſtandes der Unſchuld zu genießen bekommen, den Zuſtand ſelbſt aber und das köſtliche Glück, welches in Reinheit, in Ungeſtörtheit, be- ſteht, nicht eher zu faſſen vermögen, als bis wir in dieſem Zuſtande nicht mehr ſind, und er nur noch für unſere Betrach- tung, aber nicht für unſer Wirken vorhanden iſt. Daher auch unſer Geiſt immer unſchuldig bleibt; da wir aber hier nicht nur als Betrachtung exiſtiren, und jeden Tag auf’s neue von allen Lebenselementen berührt und ergriffen werden, und ſie wieder behandlen müſſen, ſo erneuert ſich das Unbehagen, und die Sehnſucht nach einem angemeſſenen, reinen Zuſtand für unſere Seele, auch unaufhörlich wieder. Für dieſes eigentlich unerträgliche Verhältniß iſt mir ein Troſt eingefallen; nämlich ein Mittel, den Zuſtand der Unſchuld wirklich mit Bewußt- ſein zu genießen. Mir iſt es ausgemacht, daß, wenn wir
III. 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0025"n="17"/>
regſam, daß ich hinaus ging und weinte, und außer mir war.<lb/>
Ich mußte ihn annehmen: er ging nicht; und als ich V. hatte<lb/>
rufen laſſen, waren ſolche abgedroſchene Geſpräche, die mich<lb/>
krank, und Alleinſeins oder Erfriſchung benöthigt dem Wahn-<lb/>ſinn nahe brachten. Erſt ſchwieg ich; dann ging ich hinaus,<lb/>
da hört’ ich ſie doch: dann kam ich wieder hinein; wieder<lb/>
hinaus: da weinte ich. Dann, als er <hirendition="#g">gar</hi> nicht ging, ſprach<lb/>
ich gewaltthätig und brachte zum Theil meine augenblickliche<lb/>
Lage als Klage im Allgemeinen vor. Marter. Schrecklichſter<lb/>
Abend. Ich litt <hirendition="#g">unendlich</hi>. —</p><lb/><p>Nun etwas ganz anders!</p><lb/><p>Ein in unſerm ganzen Daſein gegründeter Mangel, und<lb/>
alſo ſich immer wiederholendes Grundunglück, beſteht darin,<lb/>
daß wir nur gleichſam die einzelnen Gaben des Zuſtandes der<lb/>
Unſchuld zu genießen bekommen, den Zuſtand ſelbſt aber und<lb/>
das köſtliche Glück, welches in Reinheit, in Ungeſtörtheit, be-<lb/>ſteht, nicht eher zu faſſen vermögen, als bis wir in dieſem<lb/>
Zuſtande nicht mehr ſind, und er nur noch für unſere Betrach-<lb/>
tung, aber nicht für unſer Wirken vorhanden iſt. Daher auch<lb/>
unſer Geiſt immer unſchuldig bleibt; da wir aber hier nicht<lb/>
nur als Betrachtung exiſtiren, und jeden Tag auf’s neue von<lb/>
allen Lebenselementen berührt und ergriffen werden, und ſie<lb/>
wieder behandlen müſſen, ſo erneuert ſich das Unbehagen, und<lb/>
die Sehnſucht nach einem angemeſſenen, reinen Zuſtand für<lb/>
unſere Seele, auch unaufhörlich wieder. Für dieſes eigentlich<lb/>
unerträgliche Verhältniß iſt mir ein Troſt eingefallen; nämlich<lb/>
ein Mittel, den Zuſtand der Unſchuld wirklich mit Bewußt-<lb/>ſein zu genießen. Mir iſt es ausgemacht, daß, wenn wir<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">III.</hi> 2</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[17/0025]
regſam, daß ich hinaus ging und weinte, und außer mir war.
Ich mußte ihn annehmen: er ging nicht; und als ich V. hatte
rufen laſſen, waren ſolche abgedroſchene Geſpräche, die mich
krank, und Alleinſeins oder Erfriſchung benöthigt dem Wahn-
ſinn nahe brachten. Erſt ſchwieg ich; dann ging ich hinaus,
da hört’ ich ſie doch: dann kam ich wieder hinein; wieder
hinaus: da weinte ich. Dann, als er gar nicht ging, ſprach
ich gewaltthätig und brachte zum Theil meine augenblickliche
Lage als Klage im Allgemeinen vor. Marter. Schrecklichſter
Abend. Ich litt unendlich. —
Nun etwas ganz anders!
Ein in unſerm ganzen Daſein gegründeter Mangel, und
alſo ſich immer wiederholendes Grundunglück, beſteht darin,
daß wir nur gleichſam die einzelnen Gaben des Zuſtandes der
Unſchuld zu genießen bekommen, den Zuſtand ſelbſt aber und
das köſtliche Glück, welches in Reinheit, in Ungeſtörtheit, be-
ſteht, nicht eher zu faſſen vermögen, als bis wir in dieſem
Zuſtande nicht mehr ſind, und er nur noch für unſere Betrach-
tung, aber nicht für unſer Wirken vorhanden iſt. Daher auch
unſer Geiſt immer unſchuldig bleibt; da wir aber hier nicht
nur als Betrachtung exiſtiren, und jeden Tag auf’s neue von
allen Lebenselementen berührt und ergriffen werden, und ſie
wieder behandlen müſſen, ſo erneuert ſich das Unbehagen, und
die Sehnſucht nach einem angemeſſenen, reinen Zuſtand für
unſere Seele, auch unaufhörlich wieder. Für dieſes eigentlich
unerträgliche Verhältniß iſt mir ein Troſt eingefallen; nämlich
ein Mittel, den Zuſtand der Unſchuld wirklich mit Bewußt-
ſein zu genießen. Mir iſt es ausgemacht, daß, wenn wir
III. 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/25>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.