mißbraucht wird: das Ideal ist ein Maß, weiter nichts; jedes Produkt aber ein Wesen, mehr oder weniger sichtbar schön, und nach dem Ideale beweislich abzumessen; das Maß selbst aber bleibt wissenschaftlich-Lebendiges, hier aber als Todtes aus dem Spiele. Vielleicht sind Rikens Lippen nach dem Maße zu dünn: gut! der Geist ihres Gesichts braucht sie aber so, und hat glücklich auch sie sich so bereitet: das schien Mag- nus zu übersehn, und gab diesen Lippen nach einem Ideal etwas zu viel Fülle; und weg sind unserer Schönen ihre wahren Lippen, und deren Feinheit; dies von der Unterlippe hauptsächlich. Einem jungen Künstler, von seinen Meistern entzückt, kann das geschehn. Wie vortrefflich hat er die Haare gemacht; den Kopfputz behandelt! Wir sind nicht ge- wöhnt, die Person mit gescheiteltem Haar zu sehn: er hat es so wundervoll schön gescheitelt, und gelegt, und verziert, daß er alles, was dieses Haar leisten kann, zugleich geleistet hat; und wir sind Alle befriedigt: auch die Verwöhnten: die ver- gangene, jetzige, und künftige Mode. Die Miene aber dieses Bildes ist so vortrefflich, daß ich's besitzen möchte -- welches so selten bei mir zum Wunsche wird --, weil ich dadurch unsre Rike zehnmal des Tages lieben würde. Wenn sie diese Miene macht, berührt sie gradzu mein Herz: diese Miene spricht um einen Beifall an, den der innerste Mensch nie versagt; weil der beste innre ihn fordert. Bravo! Magnus! Schön gesehn. Stirne, Augen, Augenbraunen, vortrefflich. Es hängt auch Tizian's Geliebte oben: die sieht Rieken sehr ähnlich: die hat mehr Fülle, mehr Weiches, aber weniger Geisterartiges. Der Geliebte, glaub' ich, ganz im Dunklen, hält ihr den Spiegel.
mißbraucht wird: das Ideal iſt ein Maß, weiter nichts; jedes Produkt aber ein Weſen, mehr oder weniger ſichtbar ſchön, und nach dem Ideale beweislich abzumeſſen; das Maß ſelbſt aber bleibt wiſſenſchaftlich-Lebendiges, hier aber als Todtes aus dem Spiele. Vielleicht ſind Rikens Lippen nach dem Maße zu dünn: gut! der Geiſt ihres Geſichts braucht ſie aber ſo, und hat glücklich auch ſie ſich ſo bereitet: das ſchien Mag- nus zu überſehn, und gab dieſen Lippen nach einem Ideal etwas zu viel Fülle; und weg ſind unſerer Schönen ihre wahren Lippen, und deren Feinheit; dies von der Unterlippe hauptſächlich. Einem jungen Künſtler, von ſeinen Meiſtern entzückt, kann das geſchehn. Wie vortrefflich hat er die Haare gemacht; den Kopfputz behandelt! Wir ſind nicht ge- wöhnt, die Perſon mit geſcheiteltem Haar zu ſehn: er hat es ſo wundervoll ſchön geſcheitelt, und gelegt, und verziert, daß er alles, was dieſes Haar leiſten kann, zugleich geleiſtet hat; und wir ſind Alle befriedigt: auch die Verwöhnten: die ver- gangene, jetzige, und künftige Mode. Die Miene aber dieſes Bildes iſt ſo vortrefflich, daß ich’s beſitzen möchte — welches ſo ſelten bei mir zum Wunſche wird —, weil ich dadurch unſre Rike zehnmal des Tages lieben würde. Wenn ſie dieſe Miene macht, berührt ſie gradzu mein Herz: dieſe Miene ſpricht um einen Beifall an, den der innerſte Menſch nie verſagt; weil der beſte innre ihn fordert. Bravo! Magnus! Schön geſehn. Stirne, Augen, Augenbraunen, vortrefflich. Es hängt auch Tizian’s Geliebte oben: die ſieht Rieken ſehr ähnlich: die hat mehr Fülle, mehr Weiches, aber weniger Geiſterartiges. Der Geliebte, glaub’ ich, ganz im Dunklen, hält ihr den Spiegel.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0262"n="254"/>
mißbraucht wird: das Ideal iſt ein Maß, weiter nichts; jedes<lb/>
Produkt aber ein Weſen, mehr oder weniger ſichtbar ſchön,<lb/>
und nach dem Ideale beweislich abzumeſſen; das Maß ſelbſt<lb/>
aber bleibt wiſſenſchaftlich-Lebendiges, hier aber als Todtes<lb/>
aus dem Spiele. Vielleicht ſind Rikens Lippen nach dem<lb/>
Maße zu dünn: gut! der Geiſt ihres Geſichts braucht ſie aber<lb/>ſo, und hat glücklich auch ſie ſich ſo bereitet: das ſchien Mag-<lb/>
nus zu überſehn, und gab dieſen Lippen nach einem Ideal<lb/>
etwas zu viel Fülle; und weg ſind <hirendition="#g">unſerer</hi> Schönen ihre<lb/>
wahren Lippen, und deren Feinheit; dies von der Unterlippe<lb/>
hauptſächlich. Einem jungen Künſtler, von ſeinen Meiſtern<lb/>
entzückt, <hirendition="#g">kann</hi> das geſchehn. <hirendition="#g">Wie</hi> vortrefflich hat er die<lb/>
Haare gemacht; den Kopfputz behandelt! Wir ſind nicht ge-<lb/>
wöhnt, die Perſon mit geſcheiteltem Haar zu ſehn: er hat es<lb/>ſo wundervoll ſchön geſcheitelt, und gelegt, und verziert, daß<lb/>
er alles, was dieſes Haar leiſten kann, zugleich geleiſtet hat;<lb/>
und wir ſind Alle befriedigt: auch die Verwöhnten: die ver-<lb/>
gangene, jetzige, und künftige Mode. Die Miene aber dieſes<lb/>
Bildes iſt ſo vortrefflich, daß ich’s beſitzen möchte — welches<lb/>ſo ſelten bei mir zum Wunſche wird —, weil ich dadurch unſre<lb/>
Rike zehnmal des Tages lieben würde. Wenn ſie dieſe Miene<lb/>
macht, berührt ſie gradzu mein Herz: dieſe Miene ſpricht um<lb/>
einen Beifall an, den der innerſte Menſch nie verſagt; weil<lb/>
der beſte innre ihn fordert. Bravo! Magnus! Schön geſehn.<lb/>
Stirne, Augen, Augenbraunen, vortrefflich. Es hängt auch<lb/>
Tizian’s Geliebte oben: die ſieht Rieken ſehr ähnlich: <hirendition="#g">die hat<lb/>
mehr Fülle</hi>, mehr Weiches, aber weniger Geiſterartiges. Der<lb/>
Geliebte, glaub’ ich, ganz im Dunklen, hält ihr den Spiegel.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[254/0262]
mißbraucht wird: das Ideal iſt ein Maß, weiter nichts; jedes
Produkt aber ein Weſen, mehr oder weniger ſichtbar ſchön,
und nach dem Ideale beweislich abzumeſſen; das Maß ſelbſt
aber bleibt wiſſenſchaftlich-Lebendiges, hier aber als Todtes
aus dem Spiele. Vielleicht ſind Rikens Lippen nach dem
Maße zu dünn: gut! der Geiſt ihres Geſichts braucht ſie aber
ſo, und hat glücklich auch ſie ſich ſo bereitet: das ſchien Mag-
nus zu überſehn, und gab dieſen Lippen nach einem Ideal
etwas zu viel Fülle; und weg ſind unſerer Schönen ihre
wahren Lippen, und deren Feinheit; dies von der Unterlippe
hauptſächlich. Einem jungen Künſtler, von ſeinen Meiſtern
entzückt, kann das geſchehn. Wie vortrefflich hat er die
Haare gemacht; den Kopfputz behandelt! Wir ſind nicht ge-
wöhnt, die Perſon mit geſcheiteltem Haar zu ſehn: er hat es
ſo wundervoll ſchön geſcheitelt, und gelegt, und verziert, daß
er alles, was dieſes Haar leiſten kann, zugleich geleiſtet hat;
und wir ſind Alle befriedigt: auch die Verwöhnten: die ver-
gangene, jetzige, und künftige Mode. Die Miene aber dieſes
Bildes iſt ſo vortrefflich, daß ich’s beſitzen möchte — welches
ſo ſelten bei mir zum Wunſche wird —, weil ich dadurch unſre
Rike zehnmal des Tages lieben würde. Wenn ſie dieſe Miene
macht, berührt ſie gradzu mein Herz: dieſe Miene ſpricht um
einen Beifall an, den der innerſte Menſch nie verſagt; weil
der beſte innre ihn fordert. Bravo! Magnus! Schön geſehn.
Stirne, Augen, Augenbraunen, vortrefflich. Es hängt auch
Tizian’s Geliebte oben: die ſieht Rieken ſehr ähnlich: die hat
mehr Fülle, mehr Weiches, aber weniger Geiſterartiges. Der
Geliebte, glaub’ ich, ganz im Dunklen, hält ihr den Spiegel.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/262>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.