schienen; dacht' ich: es muß zu einem Äußersten kommen. Kompakte Irrthümer, die gar nicht aus den Köpfen hinaus- kommen wollen; fallen am Ende mit den Köpfen. Das ist nicht nur so gesagt: sondren, einfach, so geschieht's. Wahr- heit siegt, wenn auch noch so spät: dacht' ich. Aber was ist Wahrheit? -- fragen übelgesinnte, unphilosophische Menschen. -- Wahrheit ist, die immer genauere Einsicht, in die wahre Beschaffenheit der Dinge. Daher: je genauer, je zusammen- gezogener, je kleiner, je weniger davon zu sagen: je einiger, und zu allem, was der menschliche Geist zu behandlen hat, passender. Daher die, welche Geist haben, Verstand, Urtheil, ungestörte Einsicht, diese geschwind in allen Fächern der mensch- lichen Beschäftigungen zu gebrauchen vermögen. So ist es auch in der geordneten menschlichen Gesellschaft; dem Staat. Welche drückende, kampfbringende Versuche wurden erst gemacht, ehe die Völker gelehrt wurde, daß Gleichheit die einzig möglich zu erlangende Freiheit sei; d. h. daß Allen nur dieselbe Por- tion Freiheit zu Theil werden kann und soll.
Diese einfache, vereinfachte Wahrheit -- die wahre Be- schaffenheit des Verhältnisses der Menschen zu einander -- bekämpfen -- man kann nicht sagen bestreiten -- sie in den französischen Kammern noch zur Stunde. Sie ist aber von so vielen Einzelnen schon gewußt und begriffen, in so vielfa- cher Weise angewandt, und in's Leben gegangen, daß die Wi- derkämpfer nun bald als Einzelne dastehen werden, sobald sich nur die Einzelnen einen Gesammtnamen werden gegeben haben: und dann wird jenen der Irrthum gewaltsam entris- sen. Das nennt man Geschichte. Vielleicht -- wenn die Erde
III. 21
ſchienen; dacht’ ich: es muß zu einem Äußerſten kommen. Kompakte Irrthümer, die gar nicht aus den Köpfen hinaus- kommen wollen; fallen am Ende mit den Köpfen. Das iſt nicht nur ſo geſagt: ſondren, einfach, ſo geſchieht’s. Wahr- heit ſiegt, wenn auch noch ſo ſpät: dacht’ ich. Aber was iſt Wahrheit? — fragen übelgeſinnte, unphiloſophiſche Menſchen. — Wahrheit iſt, die immer genauere Einſicht, in die wahre Beſchaffenheit der Dinge. Daher: je genauer, je zuſammen- gezogener, je kleiner, je weniger davon zu ſagen: je einiger, und zu allem, was der menſchliche Geiſt zu behandlen hat, paſſender. Daher die, welche Geiſt haben, Verſtand, Urtheil, ungeſtörte Einſicht, dieſe geſchwind in allen Fächern der menſch- lichen Beſchäftigungen zu gebrauchen vermögen. So iſt es auch in der geordneten menſchlichen Geſellſchaft; dem Staat. Welche drückende, kampfbringende Verſuche wurden erſt gemacht, ehe die Völker gelehrt wurde, daß Gleichheit die einzig möglich zu erlangende Freiheit ſei; d. h. daß Allen nur dieſelbe Por- tion Freiheit zu Theil werden kann und ſoll.
Dieſe einfache, vereinfachte Wahrheit — die wahre Be- ſchaffenheit des Verhältniſſes der Menſchen zu einander — bekämpfen — man kann nicht ſagen beſtreiten — ſie in den franzöſiſchen Kammern noch zur Stunde. Sie iſt aber von ſo vielen Einzelnen ſchon gewußt und begriffen, in ſo vielfa- cher Weiſe angewandt, und in’s Leben gegangen, daß die Wi- derkämpfer nun bald als Einzelne daſtehen werden, ſobald ſich nur die Einzelnen einen Geſammtnamen werden gegeben haben: und dann wird jenen der Irrthum gewaltſam entriſ- ſen. Das nennt man Geſchichte. Vielleicht — wenn die Erde
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ſchienen; dacht’ ich: es muß zu einem Äußerſten kommen.
Kompakte Irrthümer, die gar nicht aus den Köpfen hinaus-
kommen wollen; fallen am Ende mit den Köpfen. Das iſt
nicht nur ſo geſagt: ſondren, einfach, ſo geſchieht’s. Wahr-
heit ſiegt, wenn auch noch ſo ſpät: dacht’ ich. Aber was iſt
Wahrheit? — fragen übelgeſinnte, unphiloſophiſche Menſchen.
— Wahrheit iſt, die immer genauere Einſicht, in die wahre
Beſchaffenheit der Dinge. Daher: je genauer, je zuſammen-
gezogener, je kleiner, je weniger davon zu ſagen: je einiger,
und zu allem, was der menſchliche Geiſt zu behandlen hat,
paſſender. Daher die, welche Geiſt haben, Verſtand, Urtheil,
ungeſtörte Einſicht, dieſe geſchwind in allen Fächern der menſch-
lichen Beſchäftigungen zu gebrauchen vermögen. So iſt es auch
in der geordneten menſchlichen Geſellſchaft; dem Staat. Welche
drückende, kampfbringende Verſuche wurden erſt gemacht, ehe
die Völker gelehrt wurde, daß Gleichheit die einzig möglich
zu erlangende Freiheit ſei; d. h. daß Allen nur dieſelbe Por-
tion Freiheit zu Theil werden kann und ſoll.
Dieſe einfache, vereinfachte Wahrheit — die wahre Be-
ſchaffenheit des Verhältniſſes der Menſchen zu einander —
bekämpfen — man kann nicht ſagen beſtreiten — ſie in den
franzöſiſchen Kammern noch zur Stunde. Sie iſt aber von
ſo vielen Einzelnen ſchon gewußt und begriffen, in ſo vielfa-
cher Weiſe angewandt, und in’s Leben gegangen, daß die Wi-
derkämpfer nun bald als Einzelne daſtehen werden, ſobald
ſich nur die Einzelnen einen Geſammtnamen werden gegeben
haben: und dann wird jenen der Irrthum gewaltſam entriſ-
ſen. Das nennt man Geſchichte. Vielleicht — wenn die Erde
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/329>, abgerufen am 22.11.2024.
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