schen. Ich glaube vielmehr: daß für jeden Menschen ein an- derer existirt, in welchem er allen seinen Forderungen entspro- chen fände; und daß die, welche der Pere als die tiefen Na- turen bezeichnet, im Laufe der jetzigen Welt, sich darin irren und obstiniren, daß sie eine, zwei, drei Eigenschaften im ge- liebten Gegenstand für alle annehmen, und, vorurtheilsvoll und entzündet, vor diesem Gegenstand wie vor einer zu neh- menden Festung, tapfer, standhaft, treu u. s. w. bleiben; und daß die Naturen, die der Pere für die wankelmüthigen hält, nur noch ungebildeter sind, und bewußtlos gar nur eine oder zwei Eigenschaften vom Gegenstand ihrer Neigung fordern; sich aber auch anstellen, als hätten sie den Inbegriff ihres Lebens vor sich, und dessen vollständige lebendige Förderung. Diese Konfusion avancirt sich in's Unendliche, und wird reich- lich genährt von alten, groben, verehrten Irrthümern. In- begriffe zu finden für Herz, Sinn, Förderung aller Art; für Haus, Leben, Ökonomie, Freiheit, woran europäische Liebe und Ehe Anspruch macht, ist ein so vielseitiges Glück, erfor- dert solche Glücksfälle, daß ich einen jeden frage, ob es ge- hofft werden kann, wie wir jetzt noch alle sind. Nicht so viel Werth auf Wahlen der Neigung muß gelegt werden; nicht so viel anderes ihr von Gewicht beigelegt: nicht so viel Ro- hes und Künftiges beigemischt werden. Dies öffentlich und rechtlich unterlassen zu dürfen, ist, dünkt mich, der erste Schritt, den alten Mißschritten Einhalt zu thun; an diesen leidet die Welt. Wem es gut geht, braucht gegen den Andern Gewalt -- der Rest der Welt ist seine marechaussee --. Wem es schlecht geht, der lügt; er muß. Denken thun nicht drei. --
ſchen. Ich glaube vielmehr: daß für jeden Menſchen ein an- derer exiſtirt, in welchem er allen ſeinen Forderungen entſpro- chen fände; und daß die, welche der Père als die tiefen Na- turen bezeichnet, im Laufe der jetzigen Welt, ſich darin irren und obſtiniren, daß ſie eine, zwei, drei Eigenſchaften im ge- liebten Gegenſtand für alle annehmen, und, vorurtheilsvoll und entzündet, vor dieſem Gegenſtand wie vor einer zu neh- menden Feſtung, tapfer, ſtandhaft, treu u. ſ. w. bleiben; und daß die Naturen, die der Père für die wankelmüthigen hält, nur noch ungebildeter ſind, und bewußtlos gar nur eine oder zwei Eigenſchaften vom Gegenſtand ihrer Neigung fordern; ſich aber auch anſtellen, als hätten ſie den Inbegriff ihres Lebens vor ſich, und deſſen vollſtändige lebendige Förderung. Dieſe Konfuſion avancirt ſich in’s Unendliche, und wird reich- lich genährt von alten, groben, verehrten Irrthümern. In- begriffe zu finden für Herz, Sinn, Förderung aller Art; für Haus, Leben, Ökonomie, Freiheit, woran europäiſche Liebe und Ehe Anſpruch macht, iſt ein ſo vielſeitiges Glück, erfor- dert ſolche Glücksfälle, daß ich einen jeden frage, ob es ge- hofft werden kann, wie wir jetzt noch alle ſind. Nicht ſo viel Werth auf Wahlen der Neigung muß gelegt werden; nicht ſo viel anderes ihr von Gewicht beigelegt: nicht ſo viel Ro- hes und Künftiges beigemiſcht werden. Dies öffentlich und rechtlich unterlaſſen zu dürfen, iſt, dünkt mich, der erſte Schritt, den alten Mißſchritten Einhalt zu thun; an dieſen leidet die Welt. Wem es gut geht, braucht gegen den Andern Gewalt — der Reſt der Welt iſt ſeine maréchaussée —. Wem es ſchlecht geht, der lügt; er muß. Denken thun nicht drei. —
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ſchen. Ich glaube vielmehr: daß für jeden Menſchen ein an-
derer exiſtirt, in welchem er allen ſeinen Forderungen entſpro-
chen fände; und daß die, welche der Père als die tiefen Na-
turen bezeichnet, im Laufe der jetzigen Welt, ſich darin irren
und obſtiniren, daß ſie eine, zwei, drei Eigenſchaften im ge-
liebten Gegenſtand für alle annehmen, und, vorurtheilsvoll
und entzündet, vor dieſem Gegenſtand wie vor einer zu neh-
menden Feſtung, tapfer, ſtandhaft, treu u. ſ. w. bleiben; und
daß die Naturen, die der Père für die wankelmüthigen hält,
nur noch ungebildeter ſind, und bewußtlos gar nur eine oder
zwei Eigenſchaften vom Gegenſtand ihrer Neigung fordern;
ſich aber auch anſtellen, als hätten ſie den Inbegriff ihres
Lebens vor ſich, und deſſen vollſtändige lebendige Förderung.
Dieſe Konfuſion avancirt ſich in’s Unendliche, und wird reich-
lich genährt von alten, groben, verehrten Irrthümern. In-
begriffe zu finden für Herz, Sinn, Förderung aller Art; für
Haus, Leben, Ökonomie, Freiheit, woran europäiſche Liebe
und Ehe Anſpruch macht, iſt ein ſo vielſeitiges Glück, erfor-
dert ſolche Glücksfälle, daß ich einen jeden frage, ob es ge-
hofft werden kann, wie wir jetzt noch alle ſind. Nicht ſo viel
Werth auf Wahlen der Neigung muß gelegt werden; nicht
ſo viel anderes ihr von Gewicht beigelegt: nicht ſo viel Ro-
hes und Künftiges beigemiſcht werden. Dies öffentlich und
rechtlich unterlaſſen zu dürfen, iſt, dünkt mich, der erſte Schritt,
den alten Mißſchritten Einhalt zu thun; an dieſen leidet die
Welt. Wem es gut geht, braucht gegen den Andern Gewalt
— der Reſt der Welt iſt ſeine maréchaussée —. Wem es
ſchlecht geht, der lügt; er muß. Denken thun nicht drei. —
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/566>, abgerufen am 26.11.2024.
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