Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

schen. Ich glaube vielmehr: daß für jeden Menschen ein an-
derer existirt, in welchem er allen seinen Forderungen entspro-
chen fände; und daß die, welche der Pere als die tiefen Na-
turen bezeichnet, im Laufe der jetzigen Welt, sich darin irren
und obstiniren, daß sie eine, zwei, drei Eigenschaften im ge-
liebten Gegenstand für alle annehmen, und, vorurtheilsvoll
und entzündet, vor diesem Gegenstand wie vor einer zu neh-
menden Festung, tapfer, standhaft, treu u. s. w. bleiben; und
daß die Naturen, die der Pere für die wankelmüthigen hält,
nur noch ungebildeter sind, und bewußtlos gar nur eine oder
zwei Eigenschaften vom Gegenstand ihrer Neigung fordern;
sich aber auch anstellen, als hätten sie den Inbegriff ihres
Lebens vor sich, und dessen vollständige lebendige Förderung.
Diese Konfusion avancirt sich in's Unendliche, und wird reich-
lich genährt von alten, groben, verehrten Irrthümern. In-
begriffe zu finden für Herz, Sinn, Förderung aller Art; für
Haus, Leben, Ökonomie, Freiheit, woran europäische Liebe
und Ehe Anspruch macht, ist ein so vielseitiges Glück, erfor-
dert solche Glücksfälle, daß ich einen jeden frage, ob es ge-
hofft werden kann, wie wir jetzt noch alle sind. Nicht so viel
Werth auf Wahlen der Neigung muß gelegt werden; nicht
so viel anderes ihr von Gewicht beigelegt: nicht so viel Ro-
hes und Künftiges beigemischt werden. Dies öffentlich und
rechtlich unterlassen zu dürfen, ist, dünkt mich, der erste Schritt,
den alten Mißschritten Einhalt zu thun; an diesen leidet die
Welt. Wem es gut geht, braucht gegen den Andern Gewalt
-- der Rest der Welt ist seine marechaussee --. Wem es
schlecht geht, der lügt; er muß. Denken thun nicht drei. --


ſchen. Ich glaube vielmehr: daß für jeden Menſchen ein an-
derer exiſtirt, in welchem er allen ſeinen Forderungen entſpro-
chen fände; und daß die, welche der Père als die tiefen Na-
turen bezeichnet, im Laufe der jetzigen Welt, ſich darin irren
und obſtiniren, daß ſie eine, zwei, drei Eigenſchaften im ge-
liebten Gegenſtand für alle annehmen, und, vorurtheilsvoll
und entzündet, vor dieſem Gegenſtand wie vor einer zu neh-
menden Feſtung, tapfer, ſtandhaft, treu u. ſ. w. bleiben; und
daß die Naturen, die der Père für die wankelmüthigen hält,
nur noch ungebildeter ſind, und bewußtlos gar nur eine oder
zwei Eigenſchaften vom Gegenſtand ihrer Neigung fordern;
ſich aber auch anſtellen, als hätten ſie den Inbegriff ihres
Lebens vor ſich, und deſſen vollſtändige lebendige Förderung.
Dieſe Konfuſion avancirt ſich in’s Unendliche, und wird reich-
lich genährt von alten, groben, verehrten Irrthümern. In-
begriffe zu finden für Herz, Sinn, Förderung aller Art; für
Haus, Leben, Ökonomie, Freiheit, woran europäiſche Liebe
und Ehe Anſpruch macht, iſt ein ſo vielſeitiges Glück, erfor-
dert ſolche Glücksfälle, daß ich einen jeden frage, ob es ge-
hofft werden kann, wie wir jetzt noch alle ſind. Nicht ſo viel
Werth auf Wahlen der Neigung muß gelegt werden; nicht
ſo viel anderes ihr von Gewicht beigelegt: nicht ſo viel Ro-
hes und Künftiges beigemiſcht werden. Dies öffentlich und
rechtlich unterlaſſen zu dürfen, iſt, dünkt mich, der erſte Schritt,
den alten Mißſchritten Einhalt zu thun; an dieſen leidet die
Welt. Wem es gut geht, braucht gegen den Andern Gewalt
— der Reſt der Welt iſt ſeine maréchaussée —. Wem es
ſchlecht geht, der lügt; er muß. Denken thun nicht drei. —


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0566" n="558"/>
&#x017F;chen. Ich glaube vielmehr: daß für jeden Men&#x017F;chen ein an-<lb/>
derer exi&#x017F;tirt, in welchem er allen &#x017F;einen Forderungen ent&#x017F;pro-<lb/>
chen fände; und daß die, welche der <hi rendition="#aq">Père</hi> als die tiefen Na-<lb/>
turen bezeichnet, im Laufe der jetzigen Welt, &#x017F;ich darin irren<lb/>
und ob&#x017F;tiniren, daß &#x017F;ie eine, zwei, drei Eigen&#x017F;chaften im ge-<lb/>
liebten Gegen&#x017F;tand für alle annehmen, und, vorurtheilsvoll<lb/>
und entzündet, vor die&#x017F;em Gegen&#x017F;tand wie vor einer zu neh-<lb/>
menden Fe&#x017F;tung, tapfer, &#x017F;tandhaft, treu u. &#x017F;. w. bleiben; und<lb/>
daß die Naturen, die der <hi rendition="#aq">Père</hi> für die wankelmüthigen hält,<lb/>
nur noch ungebildeter &#x017F;ind, und bewußtlos gar nur eine oder<lb/>
zwei Eigen&#x017F;chaften vom Gegen&#x017F;tand ihrer Neigung fordern;<lb/>
&#x017F;ich aber auch an&#x017F;tellen, als hätten &#x017F;ie den Inbegriff ihres<lb/>
Lebens vor &#x017F;ich, und de&#x017F;&#x017F;en voll&#x017F;tändige lebendige Förderung.<lb/>
Die&#x017F;e Konfu&#x017F;ion avancirt &#x017F;ich in&#x2019;s Unendliche, und wird reich-<lb/>
lich genährt von alten, groben, verehrten Irrthümern. In-<lb/>
begriffe zu finden für Herz, Sinn, Förderung aller Art; für<lb/>
Haus, Leben, Ökonomie, Freiheit, woran europäi&#x017F;che Liebe<lb/>
und Ehe An&#x017F;pruch macht, i&#x017F;t ein &#x017F;o viel&#x017F;eitiges Glück, erfor-<lb/>
dert &#x017F;olche Glücksfälle, daß ich einen jeden frage, ob es ge-<lb/>
hofft werden kann, wie wir jetzt noch alle &#x017F;ind. Nicht &#x017F;o viel<lb/>
Werth auf Wahlen der Neigung muß gelegt werden; nicht<lb/>
&#x017F;o viel anderes ihr von Gewicht beigelegt: nicht &#x017F;o viel Ro-<lb/>
hes und Künftiges beigemi&#x017F;cht werden. Dies öffentlich und<lb/>
rechtlich unterla&#x017F;&#x017F;en zu dürfen, i&#x017F;t, dünkt mich, der er&#x017F;te Schritt,<lb/>
den alten Miß&#x017F;chritten Einhalt zu thun; an die&#x017F;en leidet die<lb/>
Welt. Wem es gut geht, braucht gegen den Andern Gewalt<lb/>
&#x2014; der Re&#x017F;t der Welt i&#x017F;t &#x017F;eine <hi rendition="#aq">maréchaussée</hi> &#x2014;. Wem es<lb/>
&#x017F;chlecht geht, der lügt; er muß. Denken thun nicht drei. &#x2014;</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[558/0566] ſchen. Ich glaube vielmehr: daß für jeden Menſchen ein an- derer exiſtirt, in welchem er allen ſeinen Forderungen entſpro- chen fände; und daß die, welche der Père als die tiefen Na- turen bezeichnet, im Laufe der jetzigen Welt, ſich darin irren und obſtiniren, daß ſie eine, zwei, drei Eigenſchaften im ge- liebten Gegenſtand für alle annehmen, und, vorurtheilsvoll und entzündet, vor dieſem Gegenſtand wie vor einer zu neh- menden Feſtung, tapfer, ſtandhaft, treu u. ſ. w. bleiben; und daß die Naturen, die der Père für die wankelmüthigen hält, nur noch ungebildeter ſind, und bewußtlos gar nur eine oder zwei Eigenſchaften vom Gegenſtand ihrer Neigung fordern; ſich aber auch anſtellen, als hätten ſie den Inbegriff ihres Lebens vor ſich, und deſſen vollſtändige lebendige Förderung. Dieſe Konfuſion avancirt ſich in’s Unendliche, und wird reich- lich genährt von alten, groben, verehrten Irrthümern. In- begriffe zu finden für Herz, Sinn, Förderung aller Art; für Haus, Leben, Ökonomie, Freiheit, woran europäiſche Liebe und Ehe Anſpruch macht, iſt ein ſo vielſeitiges Glück, erfor- dert ſolche Glücksfälle, daß ich einen jeden frage, ob es ge- hofft werden kann, wie wir jetzt noch alle ſind. Nicht ſo viel Werth auf Wahlen der Neigung muß gelegt werden; nicht ſo viel anderes ihr von Gewicht beigelegt: nicht ſo viel Ro- hes und Künftiges beigemiſcht werden. Dies öffentlich und rechtlich unterlaſſen zu dürfen, iſt, dünkt mich, der erſte Schritt, den alten Mißſchritten Einhalt zu thun; an dieſen leidet die Welt. Wem es gut geht, braucht gegen den Andern Gewalt — der Reſt der Welt iſt ſeine maréchaussée —. Wem es ſchlecht geht, der lügt; er muß. Denken thun nicht drei. —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/566
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/566>, abgerufen am 26.11.2024.