Ich ärger als alles dies! mir zittern die Beine; erfuhr ich, im auf und ab gehen; womit ich mich von Nervenreiz, und glühendem Gesicht, in meiner Schwäche erholen wollte! C'est fini! Ich will kein Leser sein, ich will auch ein Schrei- ber werden. In diesem Zeitpunkt geht's nicht anders! Ich soll alles lesen: die Andern wollen alle schreiben. Ich er- liege. Hab' ich nicht so eben mit dem besten Vorsatz, Ihnen ein paar Worte zu schreiben, ein ellenlanges, weitläufiges, unnützes, schöngeschriebenes Memoire lesen müssen, auf hohen langen Bogen; Manuskript! -- langt mir nicht eben Varn- hagen -- mit dem Ermahnen Ihnen zu schreiben, mit der Frage ob es fertig ist, -- wieder ein geschriebnes Gedicht: "Klagelied der Mutter Gottes", von Friedrich Schlegel, sechs- unddreißig Seiten lang! Alles soll man lesen: alles Einer! Ich bin der nicht: will, kann es nicht mehr sein. Ihre Briefe mag ich lesen! Ihnen für den letzten zu danken, Ihnen zu applaudiren, darum wollte ich Ihnen schreiben. Respektirt' ich Goethen doch nicht zu sehr: so könnt' ich ihm diesen Brief schicken: wie würd' es ihn freuen, und erheitern, die Gewiß- heit, solche Leser zu haben. Begehen Sie ja den Irrthum
ſchöpf zur Verſtändigkeit zwingen. Größtes Konzert! Zwang, zum Recht des Rechthabens! —
Ich ärger als alles dies! mir zittern die Beine; erfuhr ich, im auf und ab gehen; womit ich mich von Nervenreiz, und glühendem Geſicht, in meiner Schwäche erholen wollte! C’est fini! Ich will kein Leſer ſein, ich will auch ein Schrei- ber werden. In dieſem Zeitpunkt geht’s nicht anders! Ich ſoll alles leſen: die Andern wollen alle ſchreiben. Ich er- liege. Hab’ ich nicht ſo eben mit dem beſten Vorſatz, Ihnen ein paar Worte zu ſchreiben, ein ellenlanges, weitläufiges, unnützes, ſchöngeſchriebenes Memoire leſen müſſen, auf hohen langen Bogen; Manuſkript! — langt mir nicht eben Varn- hagen — mit dem Ermahnen Ihnen zu ſchreiben, mit der Frage ob es fertig iſt, — wieder ein geſchriebnes Gedicht: „Klagelied der Mutter Gottes“, von Friedrich Schlegel, ſechs- unddreißig Seiten lang! Alles ſoll man leſen: alles Einer! Ich bin der nicht: will, kann es nicht mehr ſein. Ihre Briefe mag ich leſen! Ihnen für den letzten zu danken, Ihnen zu applaudiren, darum wollte ich Ihnen ſchreiben. Reſpektirt’ ich Goethen doch nicht zu ſehr: ſo könnt’ ich ihm dieſen Brief ſchicken: wie würd’ es ihn freuen, und erheitern, die Gewiß- heit, ſolche Leſer zu haben. Begehen Sie ja den Irrthum
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[53/0061]
ſchöpf zur Verſtändigkeit zwingen. Größtes Konzert! Zwang,
zum Recht des Rechthabens! —
An Oelsner, in Paris.
Berlin, den 30. November 1821.
Schlagsregen: ſchwimmende Straßen, grauer,
agitirter Himmel.
Ich ärger als alles dies! mir zittern die Beine; erfuhr
ich, im auf und ab gehen; womit ich mich von Nervenreiz,
und glühendem Geſicht, in meiner Schwäche erholen wollte!
C’est fini! Ich will kein Leſer ſein, ich will auch ein Schrei-
ber werden. In dieſem Zeitpunkt geht’s nicht anders! Ich
ſoll alles leſen: die Andern wollen alle ſchreiben. Ich er-
liege. Hab’ ich nicht ſo eben mit dem beſten Vorſatz, Ihnen
ein paar Worte zu ſchreiben, ein ellenlanges, weitläufiges,
unnützes, ſchöngeſchriebenes Memoire leſen müſſen, auf hohen
langen Bogen; Manuſkript! — langt mir nicht eben Varn-
hagen — mit dem Ermahnen Ihnen zu ſchreiben, mit der
Frage ob es fertig iſt, — wieder ein geſchriebnes Gedicht:
„Klagelied der Mutter Gottes“, von Friedrich Schlegel, ſechs-
unddreißig Seiten lang! Alles ſoll man leſen: alles Einer!
Ich bin der nicht: will, kann es nicht mehr ſein. Ihre Briefe
mag ich leſen! Ihnen für den letzten zu danken, Ihnen zu
applaudiren, darum wollte ich Ihnen ſchreiben. Reſpektirt’
ich Goethen doch nicht zu ſehr: ſo könnt’ ich ihm dieſen Brief
ſchicken: wie würd’ es ihn freuen, und erheitern, die Gewiß-
heit, ſolche Leſer zu haben. Begehen Sie ja den Irrthum
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/61>, abgerufen am 21.11.2024.
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