Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

sönlichkeit in beiden Weisen und massenweise zu erkennen;
davon affizirt, und nicht verwirrt, sondern ergeben zu werden,
und thätig zu bleiben; dies Vermögen ist nicht umsonst, sehe
ich ein, so unendlich selten: ja, gar nicht einmal verstanden,
wo es sich findet; und obgleich alle Menschen wenigstens
sich diese Klarheit geben könnten, so scheint es als sollte
sie, gleich einem Edelstein der Natur, ihnen schwer werden,
und selten sein: da sie uns ja noch so viele Gaben vorenthal-
ten kann, die durch kein ethisches Bemühen erreicht werden
können; und herrliche Geschenke bleiben.



Zum Unterscheiden kann sich jedes vernunftbegabte Ge-
schöpf selbst erziehen: Eingebungen, schnelle Kombinationen,
Witz u. s. w. sind Gaben: wenigstens erinnern wir uns des
Prozesses, der Bemühung, der Thätigkeit dazu nicht; und ge-
nießen sie rein; wie Erbeutetes, in dessen Besitz der Krieg
auch am Ende vergessen wird.




Ich habe jetzt Wilhelm Meisters Lehrjahre wieder gelesen.
Wie ist es möglich, einen zweiten Don Quixote zu fassen, zu
erfinden und darzustellen! Küßt euch, Cervantes und Goethe!
Beide sahen mit ihren reinen Augen: vertheidigten das Men-
schengeschlecht; sahen den Ritter durch, durch seine Thorheiten
und Irrsale, konnten ihrer Augen edlen Blick bis in seine
tiefste Seele tauchen, und dort seine eigentliche Gestalt sehen.
Wie jenem Don Quixote geht es Meistern; einen Narren nen-
nen ihn die Leute "ohne Tadel," einen Herumtreiber, der sich

ſönlichkeit in beiden Weiſen und maſſenweiſe zu erkennen;
davon affizirt, und nicht verwirrt, ſondern ergeben zu werden,
und thätig zu bleiben; dies Vermögen iſt nicht umſonſt, ſehe
ich ein, ſo unendlich ſelten: ja, gar nicht einmal verſtanden,
wo es ſich findet; und obgleich alle Menſchen wenigſtens
ſich dieſe Klarheit geben könnten, ſo ſcheint es als ſollte
ſie, gleich einem Edelſtein der Natur, ihnen ſchwer werden,
und ſelten ſein: da ſie uns ja noch ſo viele Gaben vorenthal-
ten kann, die durch kein ethiſches Bemühen erreicht werden
können; und herrliche Geſchenke bleiben.



Zum Unterſcheiden kann ſich jedes vernunftbegabte Ge-
ſchöpf ſelbſt erziehen: Eingebungen, ſchnelle Kombinationen,
Witz u. ſ. w. ſind Gaben: wenigſtens erinnern wir uns des
Prozeſſes, der Bemühung, der Thätigkeit dazu nicht; und ge-
nießen ſie rein; wie Erbeutetes, in deſſen Beſitz der Krieg
auch am Ende vergeſſen wird.




Ich habe jetzt Wilhelm Meiſters Lehrjahre wieder geleſen.
Wie iſt es möglich, einen zweiten Don Quixote zu faſſen, zu
erfinden und darzuſtellen! Küßt euch, Cervantes und Goethe!
Beide ſahen mit ihren reinen Augen: vertheidigten das Men-
ſchengeſchlecht; ſahen den Ritter durch, durch ſeine Thorheiten
und Irrſale, konnten ihrer Augen edlen Blick bis in ſeine
tiefſte Seele tauchen, und dort ſeine eigentliche Geſtalt ſehen.
Wie jenem Don Quixote geht es Meiſtern; einen Narren nen-
nen ihn die Leute „ohne Tadel,“ einen Herumtreiber, der ſich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0067" n="59"/>
&#x017F;önlichkeit in beiden Wei&#x017F;en und ma&#x017F;&#x017F;enwei&#x017F;e zu erkennen;<lb/>
davon affizirt, und nicht verwirrt, &#x017F;ondern ergeben zu werden,<lb/>
und thätig zu bleiben; dies Vermögen i&#x017F;t nicht um&#x017F;on&#x017F;t, &#x017F;ehe<lb/>
ich ein, &#x017F;o unendlich &#x017F;elten: ja, gar nicht einmal ver&#x017F;tanden,<lb/>
wo es &#x017F;ich findet; und obgleich alle Men&#x017F;chen <hi rendition="#g">wenig&#x017F;tens</hi><lb/>
&#x017F;ich <hi rendition="#g">die&#x017F;e</hi> Klarheit <hi rendition="#g">geben</hi> könnten, &#x017F;o &#x017F;cheint es als &#x017F;ollte<lb/>
&#x017F;ie, gleich einem Edel&#x017F;tein der Natur, ihnen &#x017F;chwer werden,<lb/>
und &#x017F;elten &#x017F;ein: da &#x017F;ie uns ja noch &#x017F;o viele Gaben vorenthal-<lb/>
ten kann, die durch kein ethi&#x017F;ches Bemühen erreicht werden<lb/>
können; und herrliche Ge&#x017F;chenke bleiben.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <p>Zum Unter&#x017F;cheiden kann &#x017F;ich jedes vernunftbegabte Ge-<lb/>
&#x017F;chöpf &#x017F;elb&#x017F;t erziehen: Eingebungen, &#x017F;chnelle Kombinationen,<lb/>
Witz u. &#x017F;. w. &#x017F;ind Gaben: wenig&#x017F;tens erinnern wir uns des<lb/>
Proze&#x017F;&#x017F;es, der Bemühung, der Thätigkeit dazu nicht; und ge-<lb/>
nießen &#x017F;ie rein; wie Erbeutetes, in de&#x017F;&#x017F;en Be&#x017F;itz der Krieg<lb/>
auch am Ende verge&#x017F;&#x017F;en wird.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, den 29. Januar 1822.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Ich habe jetzt Wilhelm Mei&#x017F;ters Lehrjahre wieder gele&#x017F;en.<lb/>
Wie i&#x017F;t es möglich, einen zweiten Don Quixote zu fa&#x017F;&#x017F;en, zu<lb/>
erfinden und darzu&#x017F;tellen! Küßt euch, Cervantes und Goethe!<lb/>
Beide &#x017F;ahen mit ihren reinen Augen: vertheidigten das Men-<lb/>
&#x017F;chenge&#x017F;chlecht; &#x017F;ahen den Ritter durch, durch &#x017F;eine Thorheiten<lb/>
und Irr&#x017F;ale, konnten ihrer Augen edlen Blick bis in &#x017F;eine<lb/>
tief&#x017F;te Seele tauchen, und dort &#x017F;eine eigentliche Ge&#x017F;talt &#x017F;ehen.<lb/>
Wie jenem Don Quixote geht es Mei&#x017F;tern; einen Narren nen-<lb/>
nen ihn die Leute &#x201E;ohne Tadel,&#x201C; einen Herumtreiber, der &#x017F;ich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59/0067] ſönlichkeit in beiden Weiſen und maſſenweiſe zu erkennen; davon affizirt, und nicht verwirrt, ſondern ergeben zu werden, und thätig zu bleiben; dies Vermögen iſt nicht umſonſt, ſehe ich ein, ſo unendlich ſelten: ja, gar nicht einmal verſtanden, wo es ſich findet; und obgleich alle Menſchen wenigſtens ſich dieſe Klarheit geben könnten, ſo ſcheint es als ſollte ſie, gleich einem Edelſtein der Natur, ihnen ſchwer werden, und ſelten ſein: da ſie uns ja noch ſo viele Gaben vorenthal- ten kann, die durch kein ethiſches Bemühen erreicht werden können; und herrliche Geſchenke bleiben. Zum Unterſcheiden kann ſich jedes vernunftbegabte Ge- ſchöpf ſelbſt erziehen: Eingebungen, ſchnelle Kombinationen, Witz u. ſ. w. ſind Gaben: wenigſtens erinnern wir uns des Prozeſſes, der Bemühung, der Thätigkeit dazu nicht; und ge- nießen ſie rein; wie Erbeutetes, in deſſen Beſitz der Krieg auch am Ende vergeſſen wird. Berlin, den 29. Januar 1822. Ich habe jetzt Wilhelm Meiſters Lehrjahre wieder geleſen. Wie iſt es möglich, einen zweiten Don Quixote zu faſſen, zu erfinden und darzuſtellen! Küßt euch, Cervantes und Goethe! Beide ſahen mit ihren reinen Augen: vertheidigten das Men- ſchengeſchlecht; ſahen den Ritter durch, durch ſeine Thorheiten und Irrſale, konnten ihrer Augen edlen Blick bis in ſeine tiefſte Seele tauchen, und dort ſeine eigentliche Geſtalt ſehen. Wie jenem Don Quixote geht es Meiſtern; einen Narren nen- nen ihn die Leute „ohne Tadel,“ einen Herumtreiber, der ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/67
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/67>, abgerufen am 21.11.2024.