Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Es ist ausgemacht, daß wenn wir keine Anlage -- oder
wie man's nennen will -- von Sittlichkeit in uns hätten, wir
mit der größten Anstrengung von Nachdenken nie auf ihre
Anforderungen gefallen wären. Könnte ein persönliches We-
sen je darauf kommen, daß es seine Persönlichkeit aufgeben,
und die eines Andern höher stellen sollte, als seine eigene?
Mich dünkt sogar, es ist schon eine hohe Stufe der Entwicke-
lung, Person und persönlich zu sein. Nun kommt mir vor,
wir können in einem andern Zustand von Dasein noch eine
schwerere Aufgabe in uns fühlen, die wir uns jetzt auch nicht
vorzustellen vermögen. Und nur, daß wir dergleichen zu er-
rathen vermögen, ist ein Schimmer vom Absoluten, allgemei-
nen, sich selbst begründenden Dasein; wovon die Stufen sich
verlieren müssen für einen Geist; einen absoluten, der alles
zugleich erschaut. --




Im Artikel 5. von Pascal, veritable religion prouvee par
les contrarietes qui sont dans l'homme et par le peche origi-
nel
betitelt, hofft' ich irgend einen Aufschluß über die Erbsünde
zu bekommen: aber keinen! Er sagt sehr gute Sachen über
den Zustand, worin wir Menschen uns befinden, indem er
nämlich diesen Zustand in seiner größten Tiefe klar darstellt;
auch gesteht er ein für uns großes Geheimniß zu: aber er er-
giebt sich diesem Geheimniß nicht: sondern erfindet eine Anek-
dote; wie er selbst sagt, der Vernunft widersprechend, womit
er es nun erklärt. Mir von einem solchen Mann unerklär-
lich! Und eigentlich gar nicht ergeben.


III. 5

Es iſt ausgemacht, daß wenn wir keine Anlage — oder
wie man’s nennen will — von Sittlichkeit in uns hätten, wir
mit der größten Anſtrengung von Nachdenken nie auf ihre
Anforderungen gefallen wären. Könnte ein perſönliches We-
ſen je darauf kommen, daß es ſeine Perſönlichkeit aufgeben,
und die eines Andern höher ſtellen ſollte, als ſeine eigene?
Mich dünkt ſogar, es iſt ſchon eine hohe Stufe der Entwicke-
lung, Perſon und perſönlich zu ſein. Nun kommt mir vor,
wir können in einem andern Zuſtand von Daſein noch eine
ſchwerere Aufgabe in uns fühlen, die wir uns jetzt auch nicht
vorzuſtellen vermögen. Und nur, daß wir dergleichen zu er-
rathen vermögen, iſt ein Schimmer vom Abſoluten, allgemei-
nen, ſich ſelbſt begründenden Daſein; wovon die Stufen ſich
verlieren müſſen für einen Geiſt; einen abſoluten, der alles
zugleich erſchaut. —




Im Artikel 5. von Pascal, véritable religion prouvée par
les contrariétés qui sont dans l’homme et par le péché origi-
nel
betitelt, hofft’ ich irgend einen Aufſchluß über die Erbſünde
zu bekommen: aber keinen! Er ſagt ſehr gute Sachen über
den Zuſtand, worin wir Menſchen uns befinden, indem er
nämlich dieſen Zuſtand in ſeiner größten Tiefe klar darſtellt;
auch geſteht er ein für uns großes Geheimniß zu: aber er er-
giebt ſich dieſem Geheimniß nicht: ſondern erfindet eine Anek-
dote; wie er ſelbſt ſagt, der Vernunft widerſprechend, womit
er es nun erklärt. Mir von einem ſolchen Mann unerklär-
lich! Und eigentlich gar nicht ergeben.


III. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0073" n="65"/>
            <p>Es i&#x017F;t ausgemacht, daß wenn wir keine Anlage &#x2014; oder<lb/>
wie man&#x2019;s nennen will &#x2014; von Sittlichkeit in uns hätten, wir<lb/>
mit der größten An&#x017F;trengung von Nachdenken nie auf ihre<lb/>
Anforderungen gefallen wären. Könnte ein per&#x017F;önliches We-<lb/>
&#x017F;en je darauf kommen, daß es &#x017F;eine Per&#x017F;önlichkeit aufgeben,<lb/>
und die eines Andern höher &#x017F;tellen &#x017F;ollte, als &#x017F;eine eigene?<lb/>
Mich dünkt &#x017F;ogar, es i&#x017F;t &#x017F;chon eine hohe Stufe der Entwicke-<lb/>
lung, Per&#x017F;on und per&#x017F;önlich zu &#x017F;ein. Nun kommt mir vor,<lb/>
wir können in einem andern Zu&#x017F;tand von Da&#x017F;ein noch eine<lb/>
&#x017F;chwerere Aufgabe in uns fühlen, die wir uns jetzt auch nicht<lb/>
vorzu&#x017F;tellen vermögen. Und nur, daß wir dergleichen zu er-<lb/>
rathen vermögen, i&#x017F;t ein Schimmer vom Ab&#x017F;oluten, allgemei-<lb/>
nen, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t begründenden Da&#x017F;ein; wovon die Stufen &#x017F;ich<lb/>
verlieren mü&#x017F;&#x017F;en für <hi rendition="#g">einen</hi> Gei&#x017F;t; einen ab&#x017F;oluten, der alles<lb/>
zugleich er&#x017F;chaut. &#x2014;</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Den 26. April 1822.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Im Artikel 5. von Pascal, <hi rendition="#aq">véritable religion prouvée par<lb/>
les contrariétés qui sont dans l&#x2019;homme et par le péché origi-<lb/>
nel</hi> betitelt, hofft&#x2019; ich irgend einen Auf&#x017F;chluß über die Erb&#x017F;ünde<lb/>
zu bekommen: aber keinen! Er &#x017F;agt &#x017F;ehr gute Sachen über<lb/>
den Zu&#x017F;tand, worin wir Men&#x017F;chen uns befinden, indem er<lb/>
nämlich die&#x017F;en Zu&#x017F;tand in &#x017F;einer größten Tiefe klar dar&#x017F;tellt;<lb/>
auch ge&#x017F;teht er ein für uns großes Geheimniß zu: aber er er-<lb/>
giebt &#x017F;ich die&#x017F;em Geheimniß nicht: &#x017F;ondern erfindet eine Anek-<lb/>
dote; wie er &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;agt, der Vernunft wider&#x017F;prechend, womit<lb/>
er es nun erklärt. Mir von einem &#x017F;olchen Mann <hi rendition="#g">une</hi>rklär-<lb/>
lich! Und eigentlich gar nicht ergeben.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">III.</hi> 5</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0073] Es iſt ausgemacht, daß wenn wir keine Anlage — oder wie man’s nennen will — von Sittlichkeit in uns hätten, wir mit der größten Anſtrengung von Nachdenken nie auf ihre Anforderungen gefallen wären. Könnte ein perſönliches We- ſen je darauf kommen, daß es ſeine Perſönlichkeit aufgeben, und die eines Andern höher ſtellen ſollte, als ſeine eigene? Mich dünkt ſogar, es iſt ſchon eine hohe Stufe der Entwicke- lung, Perſon und perſönlich zu ſein. Nun kommt mir vor, wir können in einem andern Zuſtand von Daſein noch eine ſchwerere Aufgabe in uns fühlen, die wir uns jetzt auch nicht vorzuſtellen vermögen. Und nur, daß wir dergleichen zu er- rathen vermögen, iſt ein Schimmer vom Abſoluten, allgemei- nen, ſich ſelbſt begründenden Daſein; wovon die Stufen ſich verlieren müſſen für einen Geiſt; einen abſoluten, der alles zugleich erſchaut. — Den 26. April 1822. Im Artikel 5. von Pascal, véritable religion prouvée par les contrariétés qui sont dans l’homme et par le péché origi- nel betitelt, hofft’ ich irgend einen Aufſchluß über die Erbſünde zu bekommen: aber keinen! Er ſagt ſehr gute Sachen über den Zuſtand, worin wir Menſchen uns befinden, indem er nämlich dieſen Zuſtand in ſeiner größten Tiefe klar darſtellt; auch geſteht er ein für uns großes Geheimniß zu: aber er er- giebt ſich dieſem Geheimniß nicht: ſondern erfindet eine Anek- dote; wie er ſelbſt ſagt, der Vernunft widerſprechend, womit er es nun erklärt. Mir von einem ſolchen Mann unerklär- lich! Und eigentlich gar nicht ergeben. III. 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/73
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/73>, abgerufen am 21.11.2024.