Er sagt, die Größe und die Nichtigkeit im Menschen seien so sichtbar, daß nothwendig die wahre Religion ihn unterrich- ten müsse, daß ein großes Prinzip von Größe -- ein unver- tilgbares meint er -- und zu gleicher Zeit ein großes Prinzip von Nichtigkeit in ihm sein müsse. Die wahre Religion müsse unsre ganze Natur kennen; und sie müsse Rechenschaft geben, über die erstaunlichen Widersprüche, die wir in ihr antref- fen. "Wenn es Ein Prinzip für alles giebt, und nur Einen Zweck, so muß die wahre Religion uns zeigen, daß wir nur dieses anbeten und lieben, da wir uns aber in der Un- fähigkeit befinden, anzubeten was wir nicht ken- nen, und etwas anderes als uns zu lieben, so muß die Re- ligion, die diese Pflichten lehrt, uns in dieser Unfähigkeit un- terrichten, und uns die Heilmittel dagegen lehren." Einmal! Nun spricht er noch viel dazwischen, was nichts sagen will; dann fährt er fort; und Gott spricht: "Erwarte also nicht Wahrheit noch Trost von Menschen. Ich bin sie, die euch gebildet hat, und der allein euch lehren kann, wer ihr seid. Aber ihr seid nicht mehr in dem Zustand, in dem ich euch bil- dete. Ich schuf den Menschen heilig, unschuldig, vollkommen. Ich erfüllte ihn mit Licht und Erkenntniß. Ich theilte ihm meine Herrlichkeit und Wunder mit. Das Auge des Menschen sah damals die Majestät Gottes. Er war nicht in den ihn verblindenden Finsternissen; nicht in Sterblichkeit und dem Elend, welches ihn betrübt. Aber er konnte die Herrlichkeit nicht ertragen, ohne in Vorwitz zu verfallen. Er wollte sich zum Centrum seiner selbst machen, und von meiner Hülfe un- abhängig. Er entzog sich meiner Herrschaft, sich mir gleich-
Er ſagt, die Größe und die Nichtigkeit im Menſchen ſeien ſo ſichtbar, daß nothwendig die wahre Religion ihn unterrich- ten müſſe, daß ein großes Prinzip von Größe — ein unver- tilgbares meint er — und zu gleicher Zeit ein großes Prinzip von Nichtigkeit in ihm ſein müſſe. Die wahre Religion müſſe unſre ganze Natur kennen; und ſie müſſe Rechenſchaft geben, über die erſtaunlichen Widerſprüche, die wir in ihr antref- fen. „Wenn es Ein Prinzip für alles giebt, und nur Einen Zweck, ſo muß die wahre Religion uns zeigen, daß wir nur dieſes anbeten und lieben, da wir uns aber in der Un- fähigkeit befinden, anzubeten was wir nicht ken- nen, und etwas anderes als uns zu lieben, ſo muß die Re- ligion, die dieſe Pflichten lehrt, uns in dieſer Unfähigkeit un- terrichten, und uns die Heilmittel dagegen lehren.“ Einmal! Nun ſpricht er noch viel dazwiſchen, was nichts ſagen will; dann fährt er fort; und Gott ſpricht: „Erwarte alſo nicht Wahrheit noch Troſt von Menſchen. Ich bin ſie, die euch gebildet hat, und der allein euch lehren kann, wer ihr ſeid. Aber ihr ſeid nicht mehr in dem Zuſtand, in dem ich euch bil- dete. Ich ſchuf den Menſchen heilig, unſchuldig, vollkommen. Ich erfüllte ihn mit Licht und Erkenntniß. Ich theilte ihm meine Herrlichkeit und Wunder mit. Das Auge des Menſchen ſah damals die Majeſtät Gottes. Er war nicht in den ihn verblindenden Finſterniſſen; nicht in Sterblichkeit und dem Elend, welches ihn betrübt. Aber er konnte die Herrlichkeit nicht ertragen, ohne in Vorwitz zu verfallen. Er wollte ſich zum Centrum ſeiner ſelbſt machen, und von meiner Hülfe un- abhängig. Er entzog ſich meiner Herrſchaft, ſich mir gleich-
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Er ſagt, die Größe und die Nichtigkeit im Menſchen ſeien
ſo ſichtbar, daß nothwendig die wahre Religion ihn unterrich-
ten müſſe, daß ein großes Prinzip von Größe — ein unver-
tilgbares meint er — und zu gleicher Zeit ein großes Prinzip
von Nichtigkeit in ihm ſein müſſe. Die wahre Religion müſſe
unſre ganze Natur kennen; und ſie müſſe Rechenſchaft geben,
über die erſtaunlichen Widerſprüche, die wir in ihr antref-
fen. „Wenn es Ein Prinzip für alles giebt, und nur Einen
Zweck, ſo muß die wahre Religion uns zeigen, daß wir nur
dieſes anbeten und lieben, da wir uns aber in der Un-
fähigkeit befinden, anzubeten was wir nicht ken-
nen, und etwas anderes als uns zu lieben, ſo muß die Re-
ligion, die dieſe Pflichten lehrt, uns in dieſer Unfähigkeit un-
terrichten, und uns die Heilmittel dagegen lehren.“ Einmal!
Nun ſpricht er noch viel dazwiſchen, was nichts ſagen will;
dann fährt er fort; und Gott ſpricht: „Erwarte alſo nicht
Wahrheit noch Troſt von Menſchen. Ich bin ſie, die euch
gebildet hat, und der allein euch lehren kann, wer ihr ſeid.
Aber ihr ſeid nicht mehr in dem Zuſtand, in dem ich euch bil-
dete. Ich ſchuf den Menſchen heilig, unſchuldig, vollkommen.
Ich erfüllte ihn mit Licht und Erkenntniß. Ich theilte ihm
meine Herrlichkeit und Wunder mit. Das Auge des Menſchen
ſah damals die Majeſtät Gottes. Er war nicht in den ihn
verblindenden Finſterniſſen; nicht in Sterblichkeit und dem
Elend, welches ihn betrübt. Aber er konnte die Herrlichkeit
nicht ertragen, ohne in Vorwitz zu verfallen. Er wollte ſich
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/74>, abgerufen am 21.11.2024.
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