Man mag das Wort Vaterland noch so oft, in die Ge- wehre der Blätter, Zeitungen. Rezensionen und Bücher gela- den, abschießen: kein Land wird dadurch eine National-Musik oder Mahlerei erhalten: noch irgend eine der Künste! Kunst erfordert das gesündeste, vollständigste Naturgefühl, unge- schwächte Sinne; einen unschuldigen, von Einflüsterungen der höheren Verbildung noch ungeschwächten Sinn; ein reges, bewegliches Gemüth: sie ist ein Behelf der höchsten Bedürf- nisse des Menschen; sie ist eigentlich -- am allgemeinsten ge- sehen -- die Gabe, ich möchte sagen die Kunst, die Natur und all unsre Zustände unserm innersten Bedürfniß am ange- messensten sehen zu lassen, und in Ermanglung, in der wir leben, darzustellen, wie wir Menschen sie eigentlich alle wün- schen müssen, vermöge unserer Beschaffenheit; wenn uns nicht Noth und Bedürfniß verkehrt haben. Nur die gesammten Bemühungen der ganzen Erde in dieser Rücksicht, und seit allen Zeiten, können die Resultate dieser Aufgabe liefern, sie aber wohl nicht ganz lösen.
National werden alle Kunsterzeugnisse der verschiedenen Völker sein müssen: von ihrem Aufenthalt und Zustand wie von einem Element bedingt, in welchem sie sich befinden. Dies aber eben kann nicht vorgeschrieben werden, nicht erbe- ten, nicht durch Beweise hervorgerufen werden. Uferleute werden mit Schifferliedern anfangen, wo sie ihre kleinen oder großen Mühen und Freuden ausdrücken, die Elemente beschrei- ben und ihre Wirkungen werden angeben wollen; wo sie sich die Orte ihrer Sehnsucht, von denen sie sich entfernen, und
November 1822.
Man mag das Wort Vaterland noch ſo oft, in die Ge- wehre der Blätter, Zeitungen. Rezenſionen und Bücher gela- den, abſchießen: kein Land wird dadurch eine National-Muſik oder Mahlerei erhalten: noch irgend eine der Künſte! Kunſt erfordert das geſündeſte, vollſtändigſte Naturgefühl, unge- ſchwächte Sinne; einen unſchuldigen, von Einflüſterungen der höheren Verbildung noch ungeſchwächten Sinn; ein reges, bewegliches Gemüth: ſie iſt ein Behelf der höchſten Bedürf- niſſe des Menſchen; ſie iſt eigentlich — am allgemeinſten ge- ſehen — die Gabe, ich möchte ſagen die Kunſt, die Natur und all unſre Zuſtände unſerm innerſten Bedürfniß am ange- meſſenſten ſehen zu laſſen, und in Ermanglung, in der wir leben, darzuſtellen, wie wir Menſchen ſie eigentlich alle wün- ſchen müſſen, vermöge unſerer Beſchaffenheit; wenn uns nicht Noth und Bedürfniß verkehrt haben. Nur die geſammten Bemühungen der ganzen Erde in dieſer Rückſicht, und ſeit allen Zeiten, können die Reſultate dieſer Aufgabe liefern, ſie aber wohl nicht ganz löſen.
National werden alle Kunſterzeugniſſe der verſchiedenen Völker ſein müſſen: von ihrem Aufenthalt und Zuſtand wie von einem Element bedingt, in welchem ſie ſich befinden. Dies aber eben kann nicht vorgeſchrieben werden, nicht erbe- ten, nicht durch Beweiſe hervorgerufen werden. Uferleute werden mit Schifferliedern anfangen, wo ſie ihre kleinen oder großen Mühen und Freuden ausdrücken, die Elemente beſchrei- ben und ihre Wirkungen werden angeben wollen; wo ſie ſich die Orte ihrer Sehnſucht, von denen ſie ſich entfernen, und
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November 1822.
Man mag das Wort Vaterland noch ſo oft, in die Ge-
wehre der Blätter, Zeitungen. Rezenſionen und Bücher gela-
den, abſchießen: kein Land wird dadurch eine National-Muſik
oder Mahlerei erhalten: noch irgend eine der Künſte! Kunſt
erfordert das geſündeſte, vollſtändigſte Naturgefühl, unge-
ſchwächte Sinne; einen unſchuldigen, von Einflüſterungen der
höheren Verbildung noch ungeſchwächten Sinn; ein reges,
bewegliches Gemüth: ſie iſt ein Behelf der höchſten Bedürf-
niſſe des Menſchen; ſie iſt eigentlich — am allgemeinſten ge-
ſehen — die Gabe, ich möchte ſagen die Kunſt, die Natur
und all unſre Zuſtände unſerm innerſten Bedürfniß am ange-
meſſenſten ſehen zu laſſen, und in Ermanglung, in der wir
leben, darzuſtellen, wie wir Menſchen ſie eigentlich alle wün-
ſchen müſſen, vermöge unſerer Beſchaffenheit; wenn uns nicht
Noth und Bedürfniß verkehrt haben. Nur die geſammten
Bemühungen der ganzen Erde in dieſer Rückſicht, und ſeit
allen Zeiten, können die Reſultate dieſer Aufgabe liefern, ſie
aber wohl nicht ganz löſen.
National werden alle Kunſterzeugniſſe der verſchiedenen
Völker ſein müſſen: von ihrem Aufenthalt und Zuſtand wie
von einem Element bedingt, in welchem ſie ſich befinden.
Dies aber eben kann nicht vorgeſchrieben werden, nicht erbe-
ten, nicht durch Beweiſe hervorgerufen werden. Uferleute
werden mit Schifferliedern anfangen, wo ſie ihre kleinen oder
großen Mühen und Freuden ausdrücken, die Elemente beſchrei-
ben und ihre Wirkungen werden angeben wollen; wo ſie ſich
die Orte ihrer Sehnſucht, von denen ſie ſich entfernen, und
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/85>, abgerufen am 24.11.2024.
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