alt gewesen seyn, als ich hineingelassen ward. Seltne spärliche Sonnenstrahlen fielen durch die kleinen Gitter, und diese vermehrten nur immer mehr meine Traurigkeit und mei- ne Sehnsucht nach dem freyen Himmel, wenn sie die gegenüber stehende Wand erhellten. Jeden Morgen beym Erwachen fiel mir das Kruzifix in die Augen, auf das oft ein solcher blasser Strahl schräg hinfiel und es so schauderhaft erleuchtete, daß ich davor zu- rückbebte. Jch habe mich in diesen ganzen vier Jahren an den Anblick nicht gewöhnen können; ich war froh, wenn der Himmel umwölkt war, damit ich die Strahlen nicht mehr sähe, die sonst meine größte Freude gemacht hatten. Seitdem war ich noch oft sehr unglücklich, ich habe Momente der schrecklichsten Verzweiflung erlebt; aber ge- gen die Bitterkeit jenes Zustandes, in dem ich die lieblichsten Jahre meiner Kind- heit vertrauren mußte ... daran reichte seit- dem nichts wieder! Wie gränzenlos unglück- lich ein Kind seyn kann, dem die Hoffnung
alt geweſen ſeyn, als ich hineingelaſſen ward. Seltne ſpaͤrliche Sonnenſtrahlen fielen durch die kleinen Gitter, und dieſe vermehrten nur immer mehr meine Traurigkeit und mei- ne Sehnſucht nach dem freyen Himmel, wenn ſie die gegenuͤber ſtehende Wand erhellten. Jeden Morgen beym Erwachen fiel mir das Kruzifix in die Augen, auf das oft ein ſolcher blaſſer Strahl ſchraͤg hinfiel und es ſo ſchauderhaft erleuchtete, daß ich davor zu- ruͤckbebte. Jch habe mich in dieſen ganzen vier Jahren an den Anblick nicht gewoͤhnen koͤnnen; ich war froh, wenn der Himmel umwoͤlkt war, damit ich die Strahlen nicht mehr ſaͤhe, die ſonſt meine groͤßte Freude gemacht hatten. Seitdem war ich noch oft ſehr ungluͤcklich, ich habe Momente der ſchrecklichſten Verzweiflung erlebt; aber ge- gen die Bitterkeit jenes Zuſtandes, in dem ich die lieblichſten Jahre meiner Kind- heit vertrauren mußte … daran reichte ſeit- dem nichts wieder! Wie graͤnzenlos ungluͤck- lich ein Kind ſeyn kann, dem die Hoffnung
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0106"n="98"/>
alt geweſen ſeyn, als ich hineingelaſſen ward.<lb/>
Seltne ſpaͤrliche Sonnenſtrahlen fielen durch<lb/>
die kleinen Gitter, und dieſe vermehrten<lb/>
nur immer mehr meine Traurigkeit und mei-<lb/>
ne Sehnſucht nach dem freyen Himmel, wenn<lb/>ſie die gegenuͤber ſtehende Wand erhellten.<lb/>
Jeden Morgen beym Erwachen fiel mir<lb/>
das Kruzifix in die Augen, auf das oft ein<lb/>ſolcher blaſſer Strahl ſchraͤg hinfiel und es<lb/>ſo ſchauderhaft erleuchtete, daß ich davor zu-<lb/>
ruͤckbebte. Jch habe mich in dieſen ganzen<lb/>
vier Jahren an den Anblick nicht gewoͤhnen<lb/>
koͤnnen; ich war froh, wenn der Himmel<lb/>
umwoͤlkt war, damit ich die Strahlen nicht<lb/>
mehr ſaͤhe, die ſonſt meine groͤßte Freude<lb/>
gemacht hatten. Seitdem war ich noch oft<lb/>ſehr ungluͤcklich, ich habe Momente der<lb/>ſchrecklichſten Verzweiflung erlebt; aber ge-<lb/>
gen die Bitterkeit jenes Zuſtandes, in dem<lb/>
ich die lieblichſten Jahre meiner Kind-<lb/>
heit vertrauren mußte … daran reichte ſeit-<lb/>
dem nichts wieder! Wie graͤnzenlos ungluͤck-<lb/>
lich ein Kind ſeyn kann, dem die Hoffnung<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[98/0106]
alt geweſen ſeyn, als ich hineingelaſſen ward.
Seltne ſpaͤrliche Sonnenſtrahlen fielen durch
die kleinen Gitter, und dieſe vermehrten
nur immer mehr meine Traurigkeit und mei-
ne Sehnſucht nach dem freyen Himmel, wenn
ſie die gegenuͤber ſtehende Wand erhellten.
Jeden Morgen beym Erwachen fiel mir
das Kruzifix in die Augen, auf das oft ein
ſolcher blaſſer Strahl ſchraͤg hinfiel und es
ſo ſchauderhaft erleuchtete, daß ich davor zu-
ruͤckbebte. Jch habe mich in dieſen ganzen
vier Jahren an den Anblick nicht gewoͤhnen
koͤnnen; ich war froh, wenn der Himmel
umwoͤlkt war, damit ich die Strahlen nicht
mehr ſaͤhe, die ſonſt meine groͤßte Freude
gemacht hatten. Seitdem war ich noch oft
ſehr ungluͤcklich, ich habe Momente der
ſchrecklichſten Verzweiflung erlebt; aber ge-
gen die Bitterkeit jenes Zuſtandes, in dem
ich die lieblichſten Jahre meiner Kind-
heit vertrauren mußte … daran reichte ſeit-
dem nichts wieder! Wie graͤnzenlos ungluͤck-
lich ein Kind ſeyn kann, dem die Hoffnung
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schlegel, Dorothea von: Florentin. Hrsg. v. Friedrich Schlegel. Lübeck u. a., 1801, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/veitschlegel_florentin_1801/106>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.