gewissen Theil gehört haben, wesentlich verändert. Während man noch bis vor kurzer Zeit gewohnt war, die Entzündung ontologisch, als einen seinem Wesen nach überall gleich- artigen Vorgang zu betrachten, so ist nach meinen Unter- suchungen nichts weiter übrig geblieben, als alles Ontolo- gische von dem Entzündungs-Begriffe abzustreifen, und den Prozess nicht mehr als einen seinem Wesen nach von den übrigen verschiedenen zu bezeichnen, sondern nur als einen der Form oder dem Verlauf nach verschiedenen anzusehen.
In der Aufstellung der Alten, wie sie uns in den dogma- tischen Schriften Galen's erhalten ist, steht bekanntlich unter den vier Cardinal-Symptomen (calor, rubor, tumor, dolor) die Hitze als das dominirende da, denn sie ist das Symptom, von welchem der Process seinen Namen bekommen hat. Später- hin ist in dem Maasse, als die Frage von der thierischen Wärme überhaupt und der Wärme in pathologischen Zustän- den insbesondere in den Hintergrund trat, immer mehr Ge- wicht gelegt worden auf die Röthung, und so ist es geschehen, dass schon im vorigen Jahrhundert in der Zeit der mechani- schen Theorien, wo namentlich Boerhaave die Entzündung ableitete von der Obstruction der Gefässe und der damit ver- bundenen Stasis des Bluts, der Begriff der Entzündung sich mehr oder weniger an die Gefässe band. Seitdem die patho- logisch-anatomischen Erfahrungen sich ausdehnten, wurde ins- besondere in Frankreich die Hyperämie als der nothwendige und regelmässige Ausgangspunkt der Entzündung dargestellt. Die Einseitigkeit, mit welcher diese Ansicht noch bis in unsere Zeit festgehalten wurde, war zum grossen Theil eine Nach- wirkung der Broussais'schen Anschauung, welche in der pathologisch-anatomischen Richtung zur Geltung gekommen ist. Die Hyperämie trat allmählig an die Stelle aller übrigen wesentlichen Symptome.
Eine Aenderung der Doctrin im grossen Styl hat eigent- lich nur die Wiener Schule versucht, indem sie, wiederum vom anatomischen Standpunkte aus, an die Stelle der Entzündungs- Symptome das Entzündungsproduct setzte. Das, was sie ihren Erfahrungen gemäss zunächst im Auge hatte, und worin sie das Wesen der Entzündung suchte, war das Product, welches
Entzündungslehre.
gewissen Theil gehört haben, wesentlich verändert. Während man noch bis vor kurzer Zeit gewohnt war, die Entzündung ontologisch, als einen seinem Wesen nach überall gleich- artigen Vorgang zu betrachten, so ist nach meinen Unter- suchungen nichts weiter übrig geblieben, als alles Ontolo- gische von dem Entzündungs-Begriffe abzustreifen, und den Prozess nicht mehr als einen seinem Wesen nach von den übrigen verschiedenen zu bezeichnen, sondern nur als einen der Form oder dem Verlauf nach verschiedenen anzusehen.
In der Aufstellung der Alten, wie sie uns in den dogma- tischen Schriften Galen’s erhalten ist, steht bekanntlich unter den vier Cardinal-Symptomen (calor, rubor, tumor, dolor) die Hitze als das dominirende da, denn sie ist das Symptom, von welchem der Process seinen Namen bekommen hat. Später- hin ist in dem Maasse, als die Frage von der thierischen Wärme überhaupt und der Wärme in pathologischen Zustän- den insbesondere in den Hintergrund trat, immer mehr Ge- wicht gelegt worden auf die Röthung, und so ist es geschehen, dass schon im vorigen Jahrhundert in der Zeit der mechani- schen Theorien, wo namentlich Boerhaave die Entzündung ableitete von der Obstruction der Gefässe und der damit ver- bundenen Stasis des Bluts, der Begriff der Entzündung sich mehr oder weniger an die Gefässe band. Seitdem die patho- logisch-anatomischen Erfahrungen sich ausdehnten, wurde ins- besondere in Frankreich die Hyperämie als der nothwendige und regelmässige Ausgangspunkt der Entzündung dargestellt. Die Einseitigkeit, mit welcher diese Ansicht noch bis in unsere Zeit festgehalten wurde, war zum grossen Theil eine Nach- wirkung der Broussais’schen Anschauung, welche in der pathologisch-anatomischen Richtung zur Geltung gekommen ist. Die Hyperämie trat allmählig an die Stelle aller übrigen wesentlichen Symptome.
Eine Aenderung der Doctrin im grossen Styl hat eigent- lich nur die Wiener Schule versucht, indem sie, wiederum vom anatomischen Standpunkte aus, an die Stelle der Entzündungs- Symptome das Entzündungsproduct setzte. Das, was sie ihren Erfahrungen gemäss zunächst im Auge hatte, und worin sie das Wesen der Entzündung suchte, war das Product, welches
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[345/0367]
Entzündungslehre.
gewissen Theil gehört haben, wesentlich verändert. Während
man noch bis vor kurzer Zeit gewohnt war, die Entzündung
ontologisch, als einen seinem Wesen nach überall gleich-
artigen Vorgang zu betrachten, so ist nach meinen Unter-
suchungen nichts weiter übrig geblieben, als alles Ontolo-
gische von dem Entzündungs-Begriffe abzustreifen, und den
Prozess nicht mehr als einen seinem Wesen nach von den
übrigen verschiedenen zu bezeichnen, sondern nur als einen
der Form oder dem Verlauf nach verschiedenen anzusehen.
In der Aufstellung der Alten, wie sie uns in den dogma-
tischen Schriften Galen’s erhalten ist, steht bekanntlich unter
den vier Cardinal-Symptomen (calor, rubor, tumor, dolor) die
Hitze als das dominirende da, denn sie ist das Symptom, von
welchem der Process seinen Namen bekommen hat. Später-
hin ist in dem Maasse, als die Frage von der thierischen
Wärme überhaupt und der Wärme in pathologischen Zustän-
den insbesondere in den Hintergrund trat, immer mehr Ge-
wicht gelegt worden auf die Röthung, und so ist es geschehen,
dass schon im vorigen Jahrhundert in der Zeit der mechani-
schen Theorien, wo namentlich Boerhaave die Entzündung
ableitete von der Obstruction der Gefässe und der damit ver-
bundenen Stasis des Bluts, der Begriff der Entzündung sich
mehr oder weniger an die Gefässe band. Seitdem die patho-
logisch-anatomischen Erfahrungen sich ausdehnten, wurde ins-
besondere in Frankreich die Hyperämie als der nothwendige
und regelmässige Ausgangspunkt der Entzündung dargestellt.
Die Einseitigkeit, mit welcher diese Ansicht noch bis in unsere
Zeit festgehalten wurde, war zum grossen Theil eine Nach-
wirkung der Broussais’schen Anschauung, welche in der
pathologisch-anatomischen Richtung zur Geltung gekommen
ist. Die Hyperämie trat allmählig an die Stelle aller übrigen
wesentlichen Symptome.
Eine Aenderung der Doctrin im grossen Styl hat eigent-
lich nur die Wiener Schule versucht, indem sie, wiederum vom
anatomischen Standpunkte aus, an die Stelle der Entzündungs-
Symptome das Entzündungsproduct setzte. Das, was sie ihren
Erfahrungen gemäss zunächst im Auge hatte, und worin sie
das Wesen der Entzündung suchte, war das Product, welches
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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/367>, abgerufen am 16.07.2024.
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