Inhalt habe, dem wirkliches und lebendiges Seyn zukomme, sondern man setzt auch voraus, daß ein Wesen zwar empirischer Weise leben, aber innerlich so entartet seyn kann, daß sein Leben Lüge zu nennen ist. Zu dieser Emphase schärft sich der Ausdruck da, wo bereits die Erfahrung vorliegt, daß auch solcher lügenhafter Inhalt sich als Kern des Schönen aufzuwerfen sucht. Das Schöne kann und muß sogar solchen Inhalt aufnehmen, jedoch so, daß es die fortdauernde Wahrheit in der Unwahrheit aufdrückt, sey es als heilende, sey es als zerstörende Kraft. Wirklich wäre ja das Unwahre nicht, sondern müßte sogleich zerfallen, wenn es nicht die Wahrheit in die Verdrehung selbst herüber- genommen hätte.
§. 29.
Es erhellt nun aber, daß in dieser Identität mit dem Guten, der Religion und dem Wahren das Schöne etwas Besonderes gar nicht ist und daß das in §. 12 aufgestellte Gesetz in des bisherigen Bestimmung des reinen Gehalts im Schönen seine Erfüllung noch gar nicht gefunden hat. In der griechischen Welt war die Schönheit mit dem Leben so verschlungen, daß das Moment des Unter- schieds, zu welchem die Einseitigkeit dieser Betrachtung überzugehen nöthigt, nicht in seiner Schärfe gefaßt werden konnte. Plato übersteht zwar in seiner mythischen Darstellung dieses Moment nicht, wo er aber die Idee des Schönen in ihre Verwirklichung verfolgen soll, vermischt er sie dennoch mit der des Guten und Wahren.
Kalokagathon der Griechen. Plato nimmt in der mythischen Dar- stellung im Phädrus eine Wendung, aus welcher der Unterschied des kalon und des agathon wohl wäre abzuleiten gewesen. In der Idee des Schönen ist kein anderer Inhalt, als in der Idee der Güte und Weis- heit: to theion kalon, bophon, agathon kai pan o ti toiou~to; sie allein aber ist, wo sie mit jenen Ideen am überhimmlischen Orte verweilt, hellschimmernd und liebreizend, ekphanesai on kai erasmiotaton. Ver- wirrung ist es, wenn Plato hinzusetzt, die andern Ideen, Weisheit und Gerechtigkeit, schauen wir nicht ebenso im sichtbaren Bilde, weil eine zu heftige Liebe dann entstehen würde. Denn wenn das Schöne denselben Gehalt hat, wie das Gute und Wahre, so ist es ja wirklich eben dieser, der im Schönen hellschimmert. Allein das Bedenkliche liegt schon in der Platonischen Ideen-Lehre überhaupt. Diese fixirt die Abstraction
Inhalt habe, dem wirkliches und lebendiges Seyn zukomme, ſondern man ſetzt auch voraus, daß ein Weſen zwar empiriſcher Weiſe leben, aber innerlich ſo entartet ſeyn kann, daß ſein Leben Lüge zu nennen iſt. Zu dieſer Emphaſe ſchärft ſich der Ausdruck da, wo bereits die Erfahrung vorliegt, daß auch ſolcher lügenhafter Inhalt ſich als Kern des Schönen aufzuwerfen ſucht. Das Schöne kann und muß ſogar ſolchen Inhalt aufnehmen, jedoch ſo, daß es die fortdauernde Wahrheit in der Unwahrheit aufdrückt, ſey es als heilende, ſey es als zerſtörende Kraft. Wirklich wäre ja das Unwahre nicht, ſondern müßte ſogleich zerfallen, wenn es nicht die Wahrheit in die Verdrehung ſelbſt herüber- genommen hätte.
§. 29.
Es erhellt nun aber, daß in dieſer Identität mit dem Guten, der Religion und dem Wahren das Schöne etwas Beſonderes gar nicht iſt und daß das in §. 12 aufgeſtellte Geſetz in des bisherigen Beſtimmung des reinen Gehalts im Schönen ſeine Erfüllung noch gar nicht gefunden hat. In der griechiſchen Welt war die Schönheit mit dem Leben ſo verſchlungen, daß das Moment des Unter- ſchieds, zu welchem die Einſeitigkeit dieſer Betrachtung überzugehen nöthigt, nicht in ſeiner Schärfe gefaßt werden konnte. Plato überſteht zwar in ſeiner mythiſchen Darſtellung dieſes Moment nicht, wo er aber die Idee des Schönen in ihre Verwirklichung verfolgen ſoll, vermiſcht er ſie dennoch mit der des Guten und Wahren.
Καλοκἀγαϑὸν der Griechen. Plato nimmt in der mythiſchen Dar- ſtellung im Phädrus eine Wendung, aus welcher der Unterſchied des καλὸν und des ἀγαϑὸν wohl wäre abzuleiten geweſen. In der Idee des Schönen iſt kein anderer Inhalt, als in der Idee der Güte und Weis- heit: τὸ ϑεῖον καλὸν, ϐοφὸν, ἀγαϑὸν καὶ πᾶν ὅ τι τοιȣ῀το; ſie allein aber iſt, wo ſie mit jenen Ideen am überhimmliſchen Orte verweilt, hellſchimmernd und liebreizend, ἐκφανέςαι ον καὶ ἐραςμιώτατον. Ver- wirrung iſt es, wenn Plato hinzuſetzt, die andern Ideen, Weisheit und Gerechtigkeit, ſchauen wir nicht ebenſo im ſichtbaren Bilde, weil eine zu heftige Liebe dann entſtehen würde. Denn wenn das Schöne denſelben Gehalt hat, wie das Gute und Wahre, ſo iſt es ja wirklich eben dieſer, der im Schönen hellſchimmert. Allein das Bedenkliche liegt ſchon in der Platoniſchen Ideen-Lehre überhaupt. Dieſe fixirt die Abſtraction
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Inhalt habe, dem wirkliches und lebendiges Seyn zukomme, ſondern
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iſt. Zu dieſer Emphaſe ſchärft ſich der Ausdruck da, wo bereits die
Erfahrung vorliegt, daß auch ſolcher lügenhafter Inhalt ſich als Kern
des Schönen aufzuwerfen ſucht. Das Schöne kann und muß ſogar
ſolchen Inhalt aufnehmen, jedoch ſo, daß es die fortdauernde Wahrheit
in der Unwahrheit aufdrückt, ſey es als heilende, ſey es als zerſtörende
Kraft. Wirklich wäre ja das Unwahre nicht, ſondern müßte ſogleich
zerfallen, wenn es nicht die Wahrheit in die Verdrehung ſelbſt herüber-
genommen hätte.
§. 29.
Es erhellt nun aber, daß in dieſer Identität mit dem Guten, der Religion
und dem Wahren das Schöne etwas Beſonderes gar nicht iſt und daß das in
§. 12 aufgeſtellte Geſetz in des bisherigen Beſtimmung des reinen Gehalts im
Schönen ſeine Erfüllung noch gar nicht gefunden hat. In der griechiſchen Welt
war die Schönheit mit dem Leben ſo verſchlungen, daß das Moment des Unter-
ſchieds, zu welchem die Einſeitigkeit dieſer Betrachtung überzugehen nöthigt,
nicht in ſeiner Schärfe gefaßt werden konnte. Plato überſteht zwar in ſeiner
mythiſchen Darſtellung dieſes Moment nicht, wo er aber die Idee des Schönen
in ihre Verwirklichung verfolgen ſoll, vermiſcht er ſie dennoch mit der des
Guten und Wahren.
Καλοκἀγαϑὸν der Griechen. Plato nimmt in der mythiſchen Dar-
ſtellung im Phädrus eine Wendung, aus welcher der Unterſchied des
καλὸν und des ἀγαϑὸν wohl wäre abzuleiten geweſen. In der Idee des
Schönen iſt kein anderer Inhalt, als in der Idee der Güte und Weis-
heit: τὸ ϑεῖον καλὸν, ϐοφὸν, ἀγαϑὸν καὶ πᾶν ὅ τι τοιȣ῀το; ſie allein
aber iſt, wo ſie mit jenen Ideen am überhimmliſchen Orte verweilt,
hellſchimmernd und liebreizend, ἐκφανέςαι ον καὶ ἐραςμιώτατον. Ver-
wirrung iſt es, wenn Plato hinzuſetzt, die andern Ideen, Weisheit und
Gerechtigkeit, ſchauen wir nicht ebenſo im ſichtbaren Bilde, weil eine zu
heftige Liebe dann entſtehen würde. Denn wenn das Schöne denſelben
Gehalt hat, wie das Gute und Wahre, ſo iſt es ja wirklich eben dieſer,
der im Schönen hellſchimmert. Allein das Bedenkliche liegt ſchon in
der Platoniſchen Ideen-Lehre überhaupt. Dieſe fixirt die Abſtraction
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/104>, abgerufen am 22.11.2024.
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