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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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welche das Zufällige streng ausschließen, es giebt andere, die sich seiner
als eines zerstörenden Feindes nicht erwehren können; es giebt mathe-
mathische, es giebt moralische, philosophische, technische, natürliche Ein-
heiten, und wir wollen erst wissen, wie sich das Schöne zu denselben
verhalte. Die neueren Aesthetiker dagegen, wo sie die Einheit des
Mannigfaltigen als wesentliches Merkmal festhielten, standen nicht einmal
auf dem Standpunkte der Idee und wußten daher den inneren Grund
des Einklanges nicht nur nicht in der geforderten Weise näher zu
bestimmen, sondern überhaupt nicht anzugeben.

Plato hat den Ausdruck: Einheit in der Mannigfaltigkeit nicht
ausdrücklich vom Schönen gebraucht. Er geht aber im Philebus von
dem Verhältnisse des Einen und Vielen aus. Jenes ist die Idee, dieß
ihr Gegensatz, der unendliche Stoff, worin sie wird. Als das Band
zwischen dem Vielen und Einen wird hierauf die Grenze, to peras, be-
griffen, welche in jenes, to apeiron, Zahl und Maß bringt. Sogleich
wird die Tonkunst als Darstellung dieses Verhältnisses angeführt, und so
wird nun, wie schon zu §. 29 bemerkt ist, metriotes kai summetria,
ausdrücklich als das Wesen der Schönheit gesetzt. Was dazwischen gesagt
ist von der königlichen Seele des Zeus als der Ursache dieses Verhält-
nisses ist eine mythisirende Darstellung, die neben der Lehre von der Idee
überflüssig ist. Diese Eigenschaft des Maßes nun und der inneren
Verhältnißmäßigkeit oder Proportion (dies heißt summetria) die sich
zugleich nothwendig als Vollendung, to teleon, das zwar eigentlich
neben dem Schönen und dann als Charakter des Guten aufgeführt, aber
offenbar ebenso zum inneren Wesen des Schönen gezählt wird, d. h. als
Abgeschlossenheit des Ganzen darstellen muß, wird allerdings der schönen
Gestalt wesentlich seyn, denn die Idee, welche in ihr erscheint, kann sich
nicht anders offenbaren, denn als ein die Theile abmessender und in
strenger organischer Einheit um sich versammelnder Mittelpunkt; aber
dieselbe Eigenschaft hat nach Plato selbst das Gute sowohl als einzelner
sich vernünftig beherrschender, weiser und gerechter Geist, als auch in
seiner Erweiterung zum harmonischen Bau des Staats, und so haben
wir wieder die Identificirung des Schönen mit dem Guten und Wahren,
aber keine spezifische Bestimmung des Schönen als solchen. Anderes ist
auch so bestimmt, der Begriff ist also zu weit, und das Schöne noch
etwas Anderes, als dies, er ist also zu eng. Ganz einfach wäre geholfen,
wenn man nun mit Ruge (Die platonische Aesthetik S. 50) die
gelegentliche Aeußerung Platos: "mir scheint, wie eine unkörperliche

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welche das Zufällige ſtreng ausſchließen, es giebt andere, die ſich ſeiner
als eines zerſtörenden Feindes nicht erwehren können; es giebt mathe-
mathiſche, es giebt moraliſche, philoſophiſche, techniſche, natürliche Ein-
heiten, und wir wollen erſt wiſſen, wie ſich das Schöne zu denſelben
verhalte. Die neueren Aeſthetiker dagegen, wo ſie die Einheit des
Mannigfaltigen als weſentliches Merkmal feſthielten, ſtanden nicht einmal
auf dem Standpunkte der Idee und wußten daher den inneren Grund
des Einklanges nicht nur nicht in der geforderten Weiſe näher zu
beſtimmen, ſondern überhaupt nicht anzugeben.

Plato hat den Ausdruck: Einheit in der Mannigfaltigkeit nicht
ausdrücklich vom Schönen gebraucht. Er geht aber im Philebus von
dem Verhältniſſe des Einen und Vielen aus. Jenes iſt die Idee, dieß
ihr Gegenſatz, der unendliche Stoff, worin ſie wird. Als das Band
zwiſchen dem Vielen und Einen wird hierauf die Grenze, τὸ πέρας, be-
griffen, welche in jenes, τὸ ἄπειρον, Zahl und Maß bringt. Sogleich
wird die Tonkunſt als Darſtellung dieſes Verhältniſſes angeführt, und ſo
wird nun, wie ſchon zu §. 29 bemerkt iſt, μετριότης καὶ συμμετρία,
ausdrücklich als das Weſen der Schönheit geſetzt. Was dazwiſchen geſagt
iſt von der königlichen Seele des Zeus als der Urſache dieſes Verhält-
niſſes iſt eine mythiſirende Darſtellung, die neben der Lehre von der Idee
überflüſſig iſt. Dieſe Eigenſchaft des Maßes nun und der inneren
Verhältnißmäßigkeit oder Proportion (dies heißt συμμετρία) die ſich
zugleich nothwendig als Vollendung, τὸ τέλεον, das zwar eigentlich
neben dem Schönen und dann als Charakter des Guten aufgeführt, aber
offenbar ebenſo zum inneren Weſen des Schönen gezählt wird, d. h. als
Abgeſchloſſenheit des Ganzen darſtellen muß, wird allerdings der ſchönen
Geſtalt weſentlich ſeyn, denn die Idee, welche in ihr erſcheint, kann ſich
nicht anders offenbaren, denn als ein die Theile abmeſſender und in
ſtrenger organiſcher Einheit um ſich verſammelnder Mittelpunkt; aber
dieſelbe Eigenſchaft hat nach Plato ſelbſt das Gute ſowohl als einzelner
ſich vernünftig beherrſchender, weiſer und gerechter Geiſt, als auch in
ſeiner Erweiterung zum harmoniſchen Bau des Staats, und ſo haben
wir wieder die Identificirung des Schönen mit dem Guten und Wahren,
aber keine ſpezifiſche Beſtimmung des Schönen als ſolchen. Anderes iſt
auch ſo beſtimmt, der Begriff iſt alſo zu weit, und das Schöne noch
etwas Anderes, als dies, er iſt alſo zu eng. Ganz einfach wäre geholfen,
wenn man nun mit Ruge (Die platoniſche Aeſthetik S. 50) die
gelegentliche Aeußerung Platos: „mir ſcheint, wie eine unkörperliche

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[99/0113] welche das Zufällige ſtreng ausſchließen, es giebt andere, die ſich ſeiner als eines zerſtörenden Feindes nicht erwehren können; es giebt mathe- mathiſche, es giebt moraliſche, philoſophiſche, techniſche, natürliche Ein- heiten, und wir wollen erſt wiſſen, wie ſich das Schöne zu denſelben verhalte. Die neueren Aeſthetiker dagegen, wo ſie die Einheit des Mannigfaltigen als weſentliches Merkmal feſthielten, ſtanden nicht einmal auf dem Standpunkte der Idee und wußten daher den inneren Grund des Einklanges nicht nur nicht in der geforderten Weiſe näher zu beſtimmen, ſondern überhaupt nicht anzugeben. Plato hat den Ausdruck: Einheit in der Mannigfaltigkeit nicht ausdrücklich vom Schönen gebraucht. Er geht aber im Philebus von dem Verhältniſſe des Einen und Vielen aus. Jenes iſt die Idee, dieß ihr Gegenſatz, der unendliche Stoff, worin ſie wird. Als das Band zwiſchen dem Vielen und Einen wird hierauf die Grenze, τὸ πέρας, be- griffen, welche in jenes, τὸ ἄπειρον, Zahl und Maß bringt. Sogleich wird die Tonkunſt als Darſtellung dieſes Verhältniſſes angeführt, und ſo wird nun, wie ſchon zu §. 29 bemerkt iſt, μετριότης καὶ συμμετρία, ausdrücklich als das Weſen der Schönheit geſetzt. Was dazwiſchen geſagt iſt von der königlichen Seele des Zeus als der Urſache dieſes Verhält- niſſes iſt eine mythiſirende Darſtellung, die neben der Lehre von der Idee überflüſſig iſt. Dieſe Eigenſchaft des Maßes nun und der inneren Verhältnißmäßigkeit oder Proportion (dies heißt συμμετρία) die ſich zugleich nothwendig als Vollendung, τὸ τέλεον, das zwar eigentlich neben dem Schönen und dann als Charakter des Guten aufgeführt, aber offenbar ebenſo zum inneren Weſen des Schönen gezählt wird, d. h. als Abgeſchloſſenheit des Ganzen darſtellen muß, wird allerdings der ſchönen Geſtalt weſentlich ſeyn, denn die Idee, welche in ihr erſcheint, kann ſich nicht anders offenbaren, denn als ein die Theile abmeſſender und in ſtrenger organiſcher Einheit um ſich verſammelnder Mittelpunkt; aber dieſelbe Eigenſchaft hat nach Plato ſelbſt das Gute ſowohl als einzelner ſich vernünftig beherrſchender, weiſer und gerechter Geiſt, als auch in ſeiner Erweiterung zum harmoniſchen Bau des Staats, und ſo haben wir wieder die Identificirung des Schönen mit dem Guten und Wahren, aber keine ſpezifiſche Beſtimmung des Schönen als ſolchen. Anderes iſt auch ſo beſtimmt, der Begriff iſt alſo zu weit, und das Schöne noch etwas Anderes, als dies, er iſt alſo zu eng. Ganz einfach wäre geholfen, wenn man nun mit Ruge (Die platoniſche Aeſthetik S. 50) die gelegentliche Aeußerung Platos: „mir ſcheint, wie eine unkörperliche 7*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/113>, abgerufen am 23.11.2024.