Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Allgemeinem eingeht, um sich als erfülltes Einzelnes zu verwirklichen.
Wenn aber diese Verbindungen unbegreiflich seyn sollen und das Unbegreif-
liche das wahre Mehr seyn soll, warum schreibt Weiße eine Aesthetik,
warum hält er irgend eine wissenschaftliche Erkenntniß des Realen für
möglich?

§. 42.

1

Die Art der Aufhebung der Zufälligkeit muß im Schönen eine besondere
2seyn. Soll sie aber überhaupt als möglich gedacht werden, so muß zuerst ganz
im Allgemeinen das wahre Verhältniß zwischen der Idee und ihrer Erscheinung
3in den Einzelwesen begriffen seyn. Dieser Begriff fehlte der Wolffischen
Philosophie, daher ihre Definition des Schönen durch: sinnlich angeschaute Voll-
kommenheit nicht leistet, was sie verspricht. Vollkommenheit nämlich scheint eine
dem Stoff immanente und sich selbst in ihm durchführende Einheit der Idee zu
bezeichnen, welche eben deßwegen, indem sie die ganze Oberfläche des von ihr
gebildeten Stoffes bestimmt, sinnlich angeschaut werden kann. Da aber dem
Systeme die Bedingungen dieses Begriffes fehlten, so vermochte es durch seine
Definition das Schöne nicht von Werken, worin dem Stoff nur eine äußere
Einheit aufgenöthigt ist, insbesondere von dem blos Zweckmäßigen, zu unter-
scheiden, und gerieth durch den Zusatz: sinnliche Anschauung in einen Wider-
spruch.

1. Daß das Zufällige im Schönen in einem anderen Sinne aufge-
hoben sey, als in den übrigen Sphären der wirklichen Idee, geht schon
§. 34 hervor, worin ihm eine ausdrückliche Geltung zuerkannt ist. Dies
ist hier noch nicht weiter zu verfolgen. Der Ausdruck: Aufhebung muß
schon darum noch unbestimmt gelassen werden, weil er eine andere Be-
deutung in Beziehung auf §. 40 erhalten muß, als in Beziehung auf
§. 31 -- 33.

2. Das Verhältniß der Idee zur Erscheinung ist schon im §. 10
als Immanenz ausgesprochen. Hier ist dieser Begriff wieder aufzu-
nehmen, denn er tritt jetzt erst durch den Zusammenhang der Entwick-
lung in das volle Licht einer unterbehrlichen Grundlage der Erklärung
des Schönen. Nicht unmittelbar vom Schönen ist aber die Rede, son-
dern eben von dieser allgemeinen metaphysischen Voraussetzung.

3. Die Wolffische, näher Baumgarten'sche Begriffsbestimmung
definirte die Vollkommenheit auch durch: Einheit in der Mannigfaltigkeit

Allgemeinem eingeht, um ſich als erfülltes Einzelnes zu verwirklichen.
Wenn aber dieſe Verbindungen unbegreiflich ſeyn ſollen und das Unbegreif-
liche das wahre Mehr ſeyn ſoll, warum ſchreibt Weiße eine Aeſthetik,
warum hält er irgend eine wiſſenſchaftliche Erkenntniß des Realen für
möglich?

§. 42.

1

Die Art der Aufhebung der Zufälligkeit muß im Schönen eine beſondere
2ſeyn. Soll ſie aber überhaupt als möglich gedacht werden, ſo muß zuerſt ganz
im Allgemeinen das wahre Verhältniß zwiſchen der Idee und ihrer Erſcheinung
3in den Einzelweſen begriffen ſeyn. Dieſer Begriff fehlte der Wolffiſchen
Philoſophie, daher ihre Definition des Schönen durch: ſinnlich angeſchaute Voll-
kommenheit nicht leiſtet, was ſie verſpricht. Vollkommenheit nämlich ſcheint eine
dem Stoff immanente und ſich ſelbſt in ihm durchführende Einheit der Idee zu
bezeichnen, welche eben deßwegen, indem ſie die ganze Oberfläche des von ihr
gebildeten Stoffes beſtimmt, ſinnlich angeſchaut werden kann. Da aber dem
Syſteme die Bedingungen dieſes Begriffes fehlten, ſo vermochte es durch ſeine
Definition das Schöne nicht von Werken, worin dem Stoff nur eine äußere
Einheit aufgenöthigt iſt, insbeſondere von dem blos Zweckmäßigen, zu unter-
ſcheiden, und gerieth durch den Zuſatz: ſinnliche Anſchauung in einen Wider-
ſpruch.

1. Daß das Zufällige im Schönen in einem anderen Sinne aufge-
hoben ſey, als in den übrigen Sphären der wirklichen Idee, geht ſchon
§. 34 hervor, worin ihm eine ausdrückliche Geltung zuerkannt iſt. Dies
iſt hier noch nicht weiter zu verfolgen. Der Ausdruck: Aufhebung muß
ſchon darum noch unbeſtimmt gelaſſen werden, weil er eine andere Be-
deutung in Beziehung auf §. 40 erhalten muß, als in Beziehung auf
§. 31 — 33.

2. Das Verhältniß der Idee zur Erſcheinung iſt ſchon im §. 10
als Immanenz ausgeſprochen. Hier iſt dieſer Begriff wieder aufzu-
nehmen, denn er tritt jetzt erſt durch den Zuſammenhang der Entwick-
lung in das volle Licht einer unterbehrlichen Grundlage der Erklärung
des Schönen. Nicht unmittelbar vom Schönen iſt aber die Rede, ſon-
dern eben von dieſer allgemeinen metaphyſiſchen Vorausſetzung.

3. Die Wolffiſche, näher Baumgarten’ſche Begriffsbeſtimmung
definirte die Vollkommenheit auch durch: Einheit in der Mannigfaltigkeit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0136" n="122"/>
Allgemeinem eingeht, um &#x017F;ich als erfülltes Einzelnes zu verwirklichen.<lb/>
Wenn aber die&#x017F;e Verbindungen unbegreiflich &#x017F;eyn &#x017F;ollen und das Unbegreif-<lb/>
liche das wahre <hi rendition="#g">Mehr</hi> &#x017F;eyn &#x017F;oll, warum &#x017F;chreibt <hi rendition="#g">Weiße</hi> eine Ae&#x017F;thetik,<lb/>
warum hält er irgend eine wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Erkenntniß des Realen für<lb/>
möglich?</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 42.</head><lb/>
              <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note>
              <p> <hi rendition="#fr">Die Art der Aufhebung der Zufälligkeit muß im Schönen eine be&#x017F;ondere<lb/><note place="left">2</note>&#x017F;eyn. Soll &#x017F;ie aber überhaupt als möglich gedacht werden, &#x017F;o muß zuer&#x017F;t ganz<lb/>
im Allgemeinen das wahre Verhältniß zwi&#x017F;chen der Idee und ihrer Er&#x017F;cheinung<lb/><note place="left">3</note>in den Einzelwe&#x017F;en begriffen &#x017F;eyn. Die&#x017F;er Begriff fehlte der <hi rendition="#g">Wolffi&#x017F;chen</hi><lb/>
Philo&#x017F;ophie, daher ihre Definition des Schönen durch: &#x017F;innlich ange&#x017F;chaute Voll-<lb/>
kommenheit nicht lei&#x017F;tet, was &#x017F;ie ver&#x017F;pricht. Vollkommenheit nämlich &#x017F;cheint eine<lb/>
dem Stoff immanente und &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t in ihm durchführende Einheit der Idee zu<lb/>
bezeichnen, welche eben deßwegen, indem &#x017F;ie die ganze Oberfläche des von ihr<lb/>
gebildeten Stoffes be&#x017F;timmt, &#x017F;innlich ange&#x017F;chaut werden kann. Da aber dem<lb/>
Sy&#x017F;teme die Bedingungen die&#x017F;es Begriffes fehlten, &#x017F;o vermochte es durch &#x017F;eine<lb/>
Definition das Schöne nicht von Werken, worin dem Stoff nur eine äußere<lb/>
Einheit aufgenöthigt i&#x017F;t, insbe&#x017F;ondere von dem blos Zweckmäßigen, zu unter-<lb/>
&#x017F;cheiden, und gerieth durch den Zu&#x017F;atz: &#x017F;innliche An&#x017F;chauung in einen Wider-<lb/>
&#x017F;pruch.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">1. Daß das Zufällige im Schönen in einem anderen Sinne aufge-<lb/>
hoben &#x017F;ey, als in den übrigen Sphären der wirklichen Idee, geht &#x017F;chon<lb/>
§. 34 hervor, worin ihm eine ausdrückliche Geltung zuerkannt i&#x017F;t. Dies<lb/>
i&#x017F;t hier noch nicht weiter zu verfolgen. Der Ausdruck: Aufhebung muß<lb/>
&#x017F;chon darum noch unbe&#x017F;timmt gela&#x017F;&#x017F;en werden, weil er eine andere Be-<lb/>
deutung in Beziehung auf §. 40 erhalten muß, als in Beziehung auf<lb/>
§. 31 &#x2014; 33.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">2. Das Verhältniß der Idee zur Er&#x017F;cheinung i&#x017F;t &#x017F;chon im §. 10<lb/>
als Immanenz ausge&#x017F;prochen. Hier i&#x017F;t die&#x017F;er Begriff wieder aufzu-<lb/>
nehmen, denn er tritt jetzt er&#x017F;t durch den Zu&#x017F;ammenhang der Entwick-<lb/>
lung in das volle Licht einer unterbehrlichen Grundlage der Erklärung<lb/>
des Schönen. Nicht unmittelbar vom Schönen i&#x017F;t aber die Rede, &#x017F;on-<lb/>
dern eben von die&#x017F;er allgemeinen metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Voraus&#x017F;etzung.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">3. Die <hi rendition="#g">Wolffi</hi>&#x017F;che, näher <hi rendition="#g">Baumgarten&#x2019;&#x017F;</hi>che Begriffsbe&#x017F;timmung<lb/>
definirte die Vollkommenheit auch durch: Einheit in der Mannigfaltigkeit<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0136] Allgemeinem eingeht, um ſich als erfülltes Einzelnes zu verwirklichen. Wenn aber dieſe Verbindungen unbegreiflich ſeyn ſollen und das Unbegreif- liche das wahre Mehr ſeyn ſoll, warum ſchreibt Weiße eine Aeſthetik, warum hält er irgend eine wiſſenſchaftliche Erkenntniß des Realen für möglich? §. 42. Die Art der Aufhebung der Zufälligkeit muß im Schönen eine beſondere ſeyn. Soll ſie aber überhaupt als möglich gedacht werden, ſo muß zuerſt ganz im Allgemeinen das wahre Verhältniß zwiſchen der Idee und ihrer Erſcheinung in den Einzelweſen begriffen ſeyn. Dieſer Begriff fehlte der Wolffiſchen Philoſophie, daher ihre Definition des Schönen durch: ſinnlich angeſchaute Voll- kommenheit nicht leiſtet, was ſie verſpricht. Vollkommenheit nämlich ſcheint eine dem Stoff immanente und ſich ſelbſt in ihm durchführende Einheit der Idee zu bezeichnen, welche eben deßwegen, indem ſie die ganze Oberfläche des von ihr gebildeten Stoffes beſtimmt, ſinnlich angeſchaut werden kann. Da aber dem Syſteme die Bedingungen dieſes Begriffes fehlten, ſo vermochte es durch ſeine Definition das Schöne nicht von Werken, worin dem Stoff nur eine äußere Einheit aufgenöthigt iſt, insbeſondere von dem blos Zweckmäßigen, zu unter- ſcheiden, und gerieth durch den Zuſatz: ſinnliche Anſchauung in einen Wider- ſpruch. 1. Daß das Zufällige im Schönen in einem anderen Sinne aufge- hoben ſey, als in den übrigen Sphären der wirklichen Idee, geht ſchon §. 34 hervor, worin ihm eine ausdrückliche Geltung zuerkannt iſt. Dies iſt hier noch nicht weiter zu verfolgen. Der Ausdruck: Aufhebung muß ſchon darum noch unbeſtimmt gelaſſen werden, weil er eine andere Be- deutung in Beziehung auf §. 40 erhalten muß, als in Beziehung auf §. 31 — 33. 2. Das Verhältniß der Idee zur Erſcheinung iſt ſchon im §. 10 als Immanenz ausgeſprochen. Hier iſt dieſer Begriff wieder aufzu- nehmen, denn er tritt jetzt erſt durch den Zuſammenhang der Entwick- lung in das volle Licht einer unterbehrlichen Grundlage der Erklärung des Schönen. Nicht unmittelbar vom Schönen iſt aber die Rede, ſon- dern eben von dieſer allgemeinen metaphyſiſchen Vorausſetzung. 3. Die Wolffiſche, näher Baumgarten’ſche Begriffsbeſtimmung definirte die Vollkommenheit auch durch: Einheit in der Mannigfaltigkeit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/136
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/136>, abgerufen am 23.11.2024.