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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Vorschein kommen, wo ein solcher Widerspruch zum Volkscharakter gehört,
so daß das originelle Individuum selbst als solches Repräsentant einer
Allgemeinheit ist. Wenn nun aber das Prädicat der Allgemeinheit
vielmehr gerade den gewöhnlichen, nicht hervorstechenden Individuen bei-
gelegt wird, so ist zu unterscheiden zwischen dem doppelten Sinne, der
in dem Begriffe der Gattung liegt. Menschheit und Volk heißt Gattung
im Sinne des animalischen und blos seelischen Wesens; in höherer An-
wendung aber bezeichnet das Wort die geistige Allgemeinheit, zu der
sich das Menschengeschlecht auf seiner Natur-Grundlage erhebt. Das
Individuum nun, das geistig werthlos ist, gibt nicht Anlaß, an die
Gattung im zweiten, höheren Sinne sich zu erinnern, es gehört also der
Gattung im Sinne der Natur an, diese als solche aber individualisirt
überhaupt nur oberflächlich; der gemeine Mensch ist daher der allgemeine
im Sinn der animalischen Gattung und der nichtige, der vereinzelte im
Sinn der geistigen. In der Gattung als geistiger Allgemeinheit dagegen
steigt Eigenthümlichkeit und Bedeutung für das Ganze und Allgemeine
in gleichem Schritte. Der große Mann ist nur sich selbst gleich und
ebensosehr ganz Mensch. Allerdings haben wir den Grund selbst der
geistvollen Eigenheit in einer Naturbasis gesucht; die Kraft, aus der
Gattung als animalischer Natur sich hervorzuheben, ist als Genie selbst
wieder Natur-Anlage. Allein es verhält sich mit dem höheren Gattungstypus
so, daß er, wo er die ihm dienenden Naturstoffe aufs Glücklichste organisirt,
dieselben zu geistigen Organe bildet, welche durch ihre Thätigkeit ihre
Herkunft aus der Natur, die sie ebensosehr zu einem spezifisch Neuen
erheben, als sie selbst aus ihr stammen, vergessen machen: so daß ihnen
gegenüber die Gattung als Naturtypus wie gemeine Natur erscheint,
während sie in ihnen sich ebensosehr übertrifft, als sie ganz sie selbst ist.
Auf jene Umbildung der Naturbasis geht der folg. §. über.

§. 49.

Vermag die Gattung die in ihrem Einzelwesen vereinigten Stoffe mit
ihrer Allgemeinheit und Einheit zu durchdringen, so wird auch der Zufall der
wechselnden Erregungen (§. 33) nur die Bedeutung einer beständigen Sollizi-
tirung haben, wodurch eben die Aeußerungen der Thätigkeit hervorgerufen
werden, welche im Wesen der Gattung liegen. Wo aber die Gattung der
Sphäre des selbstbewußten Lebens (§. 19. 20) angehört, da besteht ihr Wesen
darin, den ganzen, durch diese Art der Zufälligkeit gegebenen Stoff nicht

Vorſchein kommen, wo ein ſolcher Widerſpruch zum Volkscharakter gehört,
ſo daß das originelle Individuum ſelbſt als ſolches Repräſentant einer
Allgemeinheit iſt. Wenn nun aber das Prädicat der Allgemeinheit
vielmehr gerade den gewöhnlichen, nicht hervorſtechenden Individuen bei-
gelegt wird, ſo iſt zu unterſcheiden zwiſchen dem doppelten Sinne, der
in dem Begriffe der Gattung liegt. Menſchheit und Volk heißt Gattung
im Sinne des animaliſchen und blos ſeeliſchen Weſens; in höherer An-
wendung aber bezeichnet das Wort die geiſtige Allgemeinheit, zu der
ſich das Menſchengeſchlecht auf ſeiner Natur-Grundlage erhebt. Das
Individuum nun, das geiſtig werthlos iſt, gibt nicht Anlaß, an die
Gattung im zweiten, höheren Sinne ſich zu erinnern, es gehört alſo der
Gattung im Sinne der Natur an, dieſe als ſolche aber individualiſirt
überhaupt nur oberflächlich; der gemeine Menſch iſt daher der allgemeine
im Sinn der animaliſchen Gattung und der nichtige, der vereinzelte im
Sinn der geiſtigen. In der Gattung als geiſtiger Allgemeinheit dagegen
ſteigt Eigenthümlichkeit und Bedeutung für das Ganze und Allgemeine
in gleichem Schritte. Der große Mann iſt nur ſich ſelbſt gleich und
ebenſoſehr ganz Menſch. Allerdings haben wir den Grund ſelbſt der
geiſtvollen Eigenheit in einer Naturbaſis geſucht; die Kraft, aus der
Gattung als animaliſcher Natur ſich hervorzuheben, iſt als Genie ſelbſt
wieder Natur-Anlage. Allein es verhält ſich mit dem höheren Gattungstypus
ſo, daß er, wo er die ihm dienenden Naturſtoffe aufs Glücklichſte organiſirt,
dieſelben zu geiſtigen Organe bildet, welche durch ihre Thätigkeit ihre
Herkunft aus der Natur, die ſie ebenſoſehr zu einem ſpezifiſch Neuen
erheben, als ſie ſelbſt aus ihr ſtammen, vergeſſen machen: ſo daß ihnen
gegenüber die Gattung als Naturtypus wie gemeine Natur erſcheint,
während ſie in ihnen ſich ebenſoſehr übertrifft, als ſie ganz ſie ſelbſt iſt.
Auf jene Umbildung der Naturbaſis geht der folg. §. über.

§. 49.

Vermag die Gattung die in ihrem Einzelweſen vereinigten Stoffe mit
ihrer Allgemeinheit und Einheit zu durchdringen, ſo wird auch der Zufall der
wechſelnden Erregungen (§. 33) nur die Bedeutung einer beſtändigen Sollizi-
tirung haben, wodurch eben die Aeußerungen der Thätigkeit hervorgerufen
werden, welche im Weſen der Gattung liegen. Wo aber die Gattung der
Sphäre des ſelbſtbewußten Lebens (§. 19. 20) angehört, da beſteht ihr Weſen
darin, den ganzen, durch dieſe Art der Zufälligkeit gegebenen Stoff nicht

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[139/0153] Vorſchein kommen, wo ein ſolcher Widerſpruch zum Volkscharakter gehört, ſo daß das originelle Individuum ſelbſt als ſolches Repräſentant einer Allgemeinheit iſt. Wenn nun aber das Prädicat der Allgemeinheit vielmehr gerade den gewöhnlichen, nicht hervorſtechenden Individuen bei- gelegt wird, ſo iſt zu unterſcheiden zwiſchen dem doppelten Sinne, der in dem Begriffe der Gattung liegt. Menſchheit und Volk heißt Gattung im Sinne des animaliſchen und blos ſeeliſchen Weſens; in höherer An- wendung aber bezeichnet das Wort die geiſtige Allgemeinheit, zu der ſich das Menſchengeſchlecht auf ſeiner Natur-Grundlage erhebt. Das Individuum nun, das geiſtig werthlos iſt, gibt nicht Anlaß, an die Gattung im zweiten, höheren Sinne ſich zu erinnern, es gehört alſo der Gattung im Sinne der Natur an, dieſe als ſolche aber individualiſirt überhaupt nur oberflächlich; der gemeine Menſch iſt daher der allgemeine im Sinn der animaliſchen Gattung und der nichtige, der vereinzelte im Sinn der geiſtigen. In der Gattung als geiſtiger Allgemeinheit dagegen ſteigt Eigenthümlichkeit und Bedeutung für das Ganze und Allgemeine in gleichem Schritte. Der große Mann iſt nur ſich ſelbſt gleich und ebenſoſehr ganz Menſch. Allerdings haben wir den Grund ſelbſt der geiſtvollen Eigenheit in einer Naturbaſis geſucht; die Kraft, aus der Gattung als animaliſcher Natur ſich hervorzuheben, iſt als Genie ſelbſt wieder Natur-Anlage. Allein es verhält ſich mit dem höheren Gattungstypus ſo, daß er, wo er die ihm dienenden Naturſtoffe aufs Glücklichſte organiſirt, dieſelben zu geiſtigen Organe bildet, welche durch ihre Thätigkeit ihre Herkunft aus der Natur, die ſie ebenſoſehr zu einem ſpezifiſch Neuen erheben, als ſie ſelbſt aus ihr ſtammen, vergeſſen machen: ſo daß ihnen gegenüber die Gattung als Naturtypus wie gemeine Natur erſcheint, während ſie in ihnen ſich ebenſoſehr übertrifft, als ſie ganz ſie ſelbſt iſt. Auf jene Umbildung der Naturbaſis geht der folg. §. über. §. 49. Vermag die Gattung die in ihrem Einzelweſen vereinigten Stoffe mit ihrer Allgemeinheit und Einheit zu durchdringen, ſo wird auch der Zufall der wechſelnden Erregungen (§. 33) nur die Bedeutung einer beſtändigen Sollizi- tirung haben, wodurch eben die Aeußerungen der Thätigkeit hervorgerufen werden, welche im Weſen der Gattung liegen. Wo aber die Gattung der Sphäre des ſelbſtbewußten Lebens (§. 19. 20) angehört, da beſteht ihr Weſen darin, den ganzen, durch dieſe Art der Zufälligkeit gegebenen Stoff nicht

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/153>, abgerufen am 27.11.2024.