nur zur organischen Form und für blinde Zwecke zu verarbeiten, sondern dieses so Geformte durch einen zweiten Act, in welchem sie die Unmittelbarkeit aufhebt, in die Idealität des Willens umzubilden, welcher die geistige All- gemeinheit und die gegebene Eigenthümlichkeit des Individuums sammt ihren wechselnden Erregungen zur Einheit eines Ganzen verschmelzt. Er kann sich zwar von den Grenzen seiner Eigenheit nicht befreien, aber diese selbst er- scheinen nun als gewollte und offenbaren in der Beschränkung die Unbeschränktheit.
Keine Persönlichkeit kann über die in ihrer Naturbasis begründeten Eigenheiten ganz hinaus. Indem ich aber diese Nothwendigkeit erkenne und darnach mit meiner geistigen Kraft haushalte, erhebe ich diese Grenze selbst zu dem Meinigen und bin in der Begrenzung unbegrenzt, denn das frei Gewollte ist unbegrenzt. Jede Gattung des Lebendigen nimmt, was kommt, ergreift den innern und äußern Zufall als Stoff der Thätigkeit. Was er bringt, läßt sich nicht vorherbestimmen, alles Leben ist ein stetes Verarbeiten des Zufälligen. Den Gesetzen seines Organismus und seines Instinctes treu verarbeitet das Thier die Stoffe, die sich ihm bieten; der Mensch baut über der physischen Welt eine zweite; auch diese hängt vom Zufall ab, sowohl dem der Geburt, als dem der stets neuen Erregungen, aber wie denselben zuerst der Leib und das Bedürfniß ergriffen hat, so ergreift das sinnlich Geformte erst der Geist und gliedert daraus die Welt des Willens.
§. 50.
Diese Einheit ist keine ruhende, sondern eine thätige, worin das Allge- meine der Gattungsregel und das Zufällige der Individualität sich im Kampfe einander entgegenbewegen, der bis zu der Empörung des Einzelwillens gegen den vernünftigen und allgemeinen, zum Bösen sich steigert. Allein dieser Kampf bringt die untrennbare Zusammengehörigkeit beider Momente dadurch zum Vorschein, daß der Widerstreit als ein sich selbst aufhebender Widerspruch sich offenbart; es kann daher in demselben so wenig ein Hinderniß des Schönen liegen, daß es demselben nicht nur zu folgen vermag, sondern vielmehr aus sich selbst in seinem eigenen Interesse das Schauspiel desselben erzeugen wird.
Der Kampf, von dem hier die Rede ist, heißt im ästhetischen Gebiete das Tragische und Komische. Hiedurch scheint eine bestimmte Form des Schönen vorweggenommen zu seyn, von welcher hier noch nicht die Rede
nur zur organiſchen Form und für blinde Zwecke zu verarbeiten, ſondern dieſes ſo Geformte durch einen zweiten Act, in welchem ſie die Unmittelbarkeit aufhebt, in die Idealität des Willens umzubilden, welcher die geiſtige All- gemeinheit und die gegebene Eigenthümlichkeit des Individuums ſammt ihren wechſelnden Erregungen zur Einheit eines Ganzen verſchmelzt. Er kann ſich zwar von den Grenzen ſeiner Eigenheit nicht befreien, aber dieſe ſelbſt er- ſcheinen nun als gewollte und offenbaren in der Beſchränkung die Unbeſchränktheit.
Keine Perſönlichkeit kann über die in ihrer Naturbaſis begründeten Eigenheiten ganz hinaus. Indem ich aber dieſe Nothwendigkeit erkenne und darnach mit meiner geiſtigen Kraft haushalte, erhebe ich dieſe Grenze ſelbſt zu dem Meinigen und bin in der Begrenzung unbegrenzt, denn das frei Gewollte iſt unbegrenzt. Jede Gattung des Lebendigen nimmt, was kommt, ergreift den innern und äußern Zufall als Stoff der Thätigkeit. Was er bringt, läßt ſich nicht vorherbeſtimmen, alles Leben iſt ein ſtetes Verarbeiten des Zufälligen. Den Geſetzen ſeines Organismus und ſeines Inſtinctes treu verarbeitet das Thier die Stoffe, die ſich ihm bieten; der Menſch baut über der phyſiſchen Welt eine zweite; auch dieſe hängt vom Zufall ab, ſowohl dem der Geburt, als dem der ſtets neuen Erregungen, aber wie denſelben zuerſt der Leib und das Bedürfniß ergriffen hat, ſo ergreift das ſinnlich Geformte erſt der Geiſt und gliedert daraus die Welt des Willens.
§. 50.
Dieſe Einheit iſt keine ruhende, ſondern eine thätige, worin das Allge- meine der Gattungsregel und das Zufällige der Individualität ſich im Kampfe einander entgegenbewegen, der bis zu der Empörung des Einzelwillens gegen den vernünftigen und allgemeinen, zum Böſen ſich ſteigert. Allein dieſer Kampf bringt die untrennbare Zuſammengehörigkeit beider Momente dadurch zum Vorſchein, daß der Widerſtreit als ein ſich ſelbſt aufhebender Widerſpruch ſich offenbart; es kann daher in demſelben ſo wenig ein Hinderniß des Schönen liegen, daß es demſelben nicht nur zu folgen vermag, ſondern vielmehr aus ſich ſelbſt in ſeinem eigenen Intereſſe das Schauſpiel deſſelben erzeugen wird.
Der Kampf, von dem hier die Rede iſt, heißt im äſthetiſchen Gebiete das Tragiſche und Komiſche. Hiedurch ſcheint eine beſtimmte Form des Schönen vorweggenommen zu ſeyn, von welcher hier noch nicht die Rede
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nur zur organiſchen Form und für blinde Zwecke zu verarbeiten, ſondern dieſes
ſo Geformte durch einen zweiten Act, in welchem ſie die Unmittelbarkeit
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gemeinheit und die gegebene Eigenthümlichkeit des Individuums ſammt ihren
wechſelnden Erregungen zur Einheit eines Ganzen verſchmelzt. Er kann ſich
zwar von den Grenzen ſeiner Eigenheit nicht befreien, aber dieſe ſelbſt er-
ſcheinen nun als gewollte und offenbaren in der Beſchränkung die Unbeſchränktheit.
Keine Perſönlichkeit kann über die in ihrer Naturbaſis begründeten
Eigenheiten ganz hinaus. Indem ich aber dieſe Nothwendigkeit erkenne
und darnach mit meiner geiſtigen Kraft haushalte, erhebe ich dieſe
Grenze ſelbſt zu dem Meinigen und bin in der Begrenzung unbegrenzt,
denn das frei Gewollte iſt unbegrenzt. Jede Gattung des Lebendigen
nimmt, was kommt, ergreift den innern und äußern Zufall als Stoff
der Thätigkeit. Was er bringt, läßt ſich nicht vorherbeſtimmen,
alles Leben iſt ein ſtetes Verarbeiten des Zufälligen. Den Geſetzen
ſeines Organismus und ſeines Inſtinctes treu verarbeitet das Thier die
Stoffe, die ſich ihm bieten; der Menſch baut über der phyſiſchen Welt
eine zweite; auch dieſe hängt vom Zufall ab, ſowohl dem der Geburt,
als dem der ſtets neuen Erregungen, aber wie denſelben zuerſt der Leib
und das Bedürfniß ergriffen hat, ſo ergreift das ſinnlich Geformte erſt
der Geiſt und gliedert daraus die Welt des Willens.
§. 50.
Dieſe Einheit iſt keine ruhende, ſondern eine thätige, worin das Allge-
meine der Gattungsregel und das Zufällige der Individualität ſich im Kampfe
einander entgegenbewegen, der bis zu der Empörung des Einzelwillens gegen
den vernünftigen und allgemeinen, zum Böſen ſich ſteigert. Allein dieſer
Kampf bringt die untrennbare Zuſammengehörigkeit beider Momente dadurch
zum Vorſchein, daß der Widerſtreit als ein ſich ſelbſt aufhebender Widerſpruch
ſich offenbart; es kann daher in demſelben ſo wenig ein Hinderniß des Schönen
liegen, daß es demſelben nicht nur zu folgen vermag, ſondern vielmehr aus ſich
ſelbſt in ſeinem eigenen Intereſſe das Schauſpiel deſſelben erzeugen wird.
Der Kampf, von dem hier die Rede iſt, heißt im äſthetiſchen Gebiete
das Tragiſche und Komiſche. Hiedurch ſcheint eine beſtimmte Form des
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/154>, abgerufen am 27.11.2024.
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